Zwei Männer und zwei Frauen stehen in einem Gruppenbild nebeneinander. Im Hintergrund sieht man den Eingang der Gedenkstätte Hadamar.
Bettina Post-Kobayashi (Dolmetscherin), Gisela Puschmann (Angehörige eines Hadamar-Opfers), Katsunori Fujii (Vorsitzender japanischer Behindertenverband) und Prof. Dr. Jan Erik Schulte (Leiter Gedenkstätte Hadamar) im Gruppenbild (von links nach rechts).

Besuch aus Japan in Gedenkstätte Hadamar

Erinnerung wachhalten, Namen der Opfer nie vergessen

Täglich fuhren die grauen, voll besetzten Busse durch Hadamar den Berg hinauf und steuerten direkt die eigens gebaute Garage an. Von dort führten die Nazis die Menschen durch einen Korridor ins Innere des Gebäudes. Ohne zu wissen, wohin man sie brachte. Es hieß, man verlege sie in eine andere Krankenanstalt. Tatsächlich brachten die Nazis die Kranken um.

Die Busgarage in Hadamar ist die einzige noch erhaltene Garage der sechs ehemaligen Gasmordanstalten. Katsunori Fujii tastet mit der Hand an der Holzwand entlang, bis er den Griff des Tores findet. „Die Nazis brachten die Menschen am gleichen Tag um, um nicht für Essen aufkommen zu müssen?“, fragt er. So ist es. Häufig datierte die Nazi-Verwaltung die Todesdaten auf einen späteren Tag, um noch das Pflegegeld zu kassieren.

Ein blindes Mitglied der Delegation ertastet ein Scheunentor. Die Umstehenden beobachten die Szene interessiert.
Geschichte ertasten. Katsunori Fujii, blinder Gast aus Japan, verschafft sich seinen eigenen Eindruck vom historischen Ort in Hadamar.

Die Gedenkstätte Hadamar, eine Einrichtung des LWV Hessen, hat hochrangigen Besuch. Katsunori Fujii ist führend in der Behindertenbewegung in Japan. Er informiert sich an zwei Tagen im Juli mit einer kleinen Delegation darüber, wie Deutschland heute mit seiner Geschichte umgeht – der Geschichte des systematischen Massenmordes an Menschen mit Behinderungen während der Nazi-Zeit. Dieses Jahr jährt sich das Kriegsende zum 80. Mal in Deutschland und in Japan.

EIN ORT MIT „GROSSER BEDEUTUNG“

Der Vorsitzende des japanischen Dachverbandes von zahlreichen Mitgliedsorganisationen für Menschen mit Behinderungen besucht die Gedenkstätte in Hadamar bereits zum dritten Mal. „Ich kann nicht sehen, aber ich erinnere mich, was ich vor zehn Jahren mit meinen Händen ertastet habe.“ Dieses Mal begleiten ihn ein Professor der Hosei-Universität in Tokio und eine Journalistin, die für eine der größten japanischen Tageszeitungen arbeitet. Dieser Ort habe eine große Bedeutung, sagt Fujii. „Geschichte, die vergessen wird, wiederholt sich.“

Die Besucher stehen im Halbkreis um eine Person mit rötlichen Haaren, die ihnen die Ausstellung schildert.
Dr. Esther Abel (Bildmitte), wissenschaftliche Dokumentarin der Gedenkstätte Hadamar, erläutert der Delegation aus Japan die Dauerausstellung.

Er lässt sich die Ausstellung erklären, steigt die Stufen hinab in den historischen Keller und den Hügel hinauf zum ehemaligen Anstaltsfriedhof, der zu einer Gedenklandschaft umgestaltet wurde. Seine Fragen übersetzt die Dolmetscherin vom Japanischen ins Deutsche: Warum wählten die Nazis Hadamar für die Tötungen der Kranken aus? Weil das Reservelazarett gerade leer stand und die Stadt gut an die Autobahn angebunden war. Wie viele Menschen wurden in allen sechs Tötungsanstalten umgebracht? Etwa 70.000 Männer, Frauen und Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen während der sogenannten Aktion T4. Aus der Tiergartenstraße 4 in Berlin organisierten die Nazi-Behörden das staatliche Töten.

Manchmal nickt er, immer hört er konzentriert zu. Nur einmal holt er schwer Luft. Gedenkstättenleiter Professor Dr. Jan Erik Schulte berichtet, dass mitunter Schulklassen ähnliche Gedenkstätten in Ost-Deutschland besuchen, in denen die Hälfte der Schülerinnen und Schüler ein gefestigt rechtsextremes Weltbild hätten.

IM KELLER IST DIE EHEMALIGE GASKAMMER

Gisela Puschmann geht nur zögerlich in die Busgarage. Den Keller, in dem ihre gerade einmal 17 Jahre alte Tante Helga vergast wurde, betritt sie nicht. „Das geht mir zu nah.“ Puschmann ist Vorstandsmitglied des Fördervereins der Gedenkstätte. Erst Anfang der 2000er-Jahre hat sie erfahren, dass die Schwester ihres Vaters nach Hadamar verlegt und getötet wurde. „Mein Vater hat mir nie etwas von ihr erzählt.“ Gisela Puschmann hat nachgeforscht, aber nicht viel herausgefunden. „Hier“, sie zeigt auf den „Mordkalender“ in der Ausstellung: Am 30. Januar 1941, in den ersten Tagen der „T4-Aktion“, ist Helga mit 77 weiteren Patienten und Patientinnen von Herborn nach Hadamar geschafft worden. Die junge Frau hatte aufgrund eines Unfalls epileptische Anfälle. Keine sogenannte Erbkrankheit, wie die Nazis behaupteten.

Zu sehen ist eine schreibende Hand, die etwas auf einem Notizblock notiert.
Die Journalistin Miki Morimoto, die für eine der größten japanischen Tageszeitungen schreibt, dokumentiert den Besuch in allen Details.

NICHT DER ERSTE BESUCH IN DER GEDENKSTÄTTE

Helga Ortlepp – der Name der Tante, ihr Geburts- und Todesdatum – stehen wie alle anderen Namen der zwischen 1941 und 1945 Getöteten in dem Gedenkbuch, das die Gedenkstätte ausgelegt hat. Katsunori Fujii fährt mit dem Finger die leicht erhabenen Buchstaben nach. Puschmann und Fujii kennen sich seit seinem ersten Besuch vor zehn Jahren. Der Kontakt ist nie abgerissen. Beide verbindet dasselbe Ziel: Verbrechen aufdecken, die Erinnerung wachhalten, die Namen der Opfer nie vergessen.

Fujii bereist andere Länder, um sich zu informieren, wie dort mit Verbrechen an Menschen mit Behinderung umgegangen wird. Japans Geschichte der Zwangssterilisationen ist noch aktuell. Mit der fabrikmäßigen Ermordung in Deutschland ist sie allerdings nicht vergleichbar. Der Oberste Gerichtshof von Japan erklärte im vergangenen Jahr ein von 1948 bis 1996 gültiges Gesetz rückwirkend für verfassungswidrig. Auf dieser gesetzlichen Grundlage waren Menschen mit geistigen Behinderungen, mit psychischen oder erblichen Krankheiten sowie Transsexuelle zwangssterilisiert worden. Fujii spricht von 25.000 Zwangssterilisationen und knapp 70.000 gewaltsamen Abtreibungen – vor allem an Schwangeren mit kognitiven Einschränkungen und psychischen Erkrankungen. Dadurch sollte – so der wörtliche Gesetzestext – „die Erzeugung minderwertiger Nachkommen“ unterbunden werden.

IN JAPAN KEIN ERINNERUNGSORT WIE HADAMAR

Entschädigungszahlungen seien zugesagt, aber bisher wären nur 1.000 Menschen als Geschädigte anerkannt worden, berichtet Fujii. In Japan gebe es keine Gedenkstätten zur Erinnerung und Mahnung im Umgang mit behinderten Menschen wie in Hadamar. „Wir sind gerade dabei, unsere Geschichte aufzuarbeiten, und denken darüber nach, wie wir mit diesem Erbe umgehen sollen.“

Zwei Personen stehen händeschüttelnd und lachend vor dem Hinweisschild zur Gedenkstätte Hadamar. Die japanische Journalistin fotografier t die Szene aus dem Vordergrund.
Auch Prof. Jan Erik Schulte nahm sich Zeit für die kleine Delegation aus Japan (alle Fotos: Gedenkstätte Hadamar).

Als Vorbild taugt Deutschland allerdings nicht, findet Gisela Puschmann. Das Parlament verabschiedete erst am 29. Januar 2025 die Anerkennung der sogenannten Euthanasie-Opfer und der zwangssterilisierten Menschen als Verfolgte des Nazi-Regimes. „Ist es nicht beschämend“, fragt Puschmann, „dass die letzte Opfergruppe erst 80 Jahre nach der Befreiung anerkannt wurde?“

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