Auf der Straße sind wohnungslose Frauen selten zu sehen. Sie tun alles, um nicht aufzufallen und schlüpfen nachts bei Bekannten oder in Notunterkünften unter. Jetzt gibt es in Offenbach seit Jahren wieder ein Angebot für Frauen: ein eigenes, abschließbares Ein-Zimmer-Appartement.
Kurz nach Eröffnung sind die 24 Wohnungen – vier für Frauen, 20 für Männer – im neuen Offenbacher Diakoniezentrum in der Gerberstraße 15, kurz: Gerber 15, fast alle belegt. Die Plätze finanziert der LWV Hessen. Mit der Presse will heute keine Frau sprechen. Eine guckt aus ihrem Fenster auf die Straße und zieht sich gleich wieder zurück. Alles ist noch neu und ungewohnt. Die Frauen wohnen erst seit Kurzem in ihrem neuen Domizil. Zwei Jahre haben sie nun Zeit, um wieder Fuß zu fassen und eine feste Wohnung zu finden. Die „Gerber 15“ ist ein Übergangswohnheim.



Wohnungslose Menschen sind gefährdet. Frauen ganz besonders. Um ihnen im neuen Haus Sicherheit zu geben, sind die Bewohnerinnen auf einem eigenen Stockwerk untergebracht, zu dem nur sie und einige Mitarbeitende des Zentrums Zugang haben. Jedes Apartment ist mit einer codierten Schlüsselkarte zu öffnen.
ORT, AN DEM MAN ZUR RUHE KOMMEN KANN
„Hier kann niemand rein.“ Zum Beweis dreht Walid Mejri am Knauf – von außen lässt sich die Apartmenttür nicht aufmachen. Walid Mejri, der seit einem knappen Monat in der Gerber 15 wohnt, hat gleich zugesagt, klar, er möchte mit der Presse reden. Genauso wichtig wie das verschließbare Apartment ist ihm der rund um die Uhr besetzte Empfang. Das hat es im alten Haus nicht gegeben. Tag und Nacht kontrollieren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentrums, wer das Haus betritt. Damit sich niemand auf der Treppe rumdrückt oder im Hof rumschleicht. „Das ist beruhigend“, findet Walid Mejri. „Ich fühle hier Ruhe.“ Das Einzige, was ihm gerade fehle, seien eine Zigarette und Kaffee.
Walid Mejri, 45, von Beruf Restaurator, hat in vielen Ländern Mosaike wiederhergestellt, Kunstwerke aus frühchristlicher Zeit. Gran Canaria, Rom, San Francisco. Er zeigt auf seinem Mobiltelefon Fotos und Zeitungsartikel über ein 16 Quadratmeter großes Mosaik. Eine gute Zeit sei das gewesen. Mit eigener Firma und 25 Mitarbeitern. Aber dem arabischen Frühling folgte die Repression. Radikale Islamisten griffen ihn an, vermutlich wegen der christlichen Symbole auf den Mosaiken, erzählt er. Mejri floh aus seiner Heimat Tunesien, verlor seine Firma und alles, was er hat.
SOZIALER ABSTIEG KANN SCHNELL PASSIEREN
Mit der Frau, die er in Deutschland kennenlernte, bekam er einen Sohn. Um die Familie zu ernähren, heuerte er bei einer Leihfirma an. War der eine Einsatz beendet, schickte ihn die Leiharbeitsfirma zum nächsten Betrieb. Der Druck zu kämpfen, aber nicht vorwärts zu kommen, machte ihn mürbe. Es ist der Anfang eines schnellen Abstiegs: kein Job, die Ehe am Ende, er verlor das überteuerte Zimmer und das Arbeitslosengeld reichte nicht einmal für billige Pensionen.



Die folgenden sechs Monate beschreibt Walid Mejri als Hölle. „Ich wusste nie, wo ich die nächste Nacht schlafe.“ Das Jobcenter drückte ihm manchmal einen 20-Euro-Gutschein für eine Übernachtung in die Hand. Was kriegt man denn dafür, fragte er sich. In eine städtische Notunterkunft schaute er mal rein: „Keinen Hund würde man da hinschicken.“
WALID ZEIGT STOLZ SEIN APPARTEMENT
Er winkt rein in sein Appartement. Alles war an seinem Einzugstag schon aufgebaut: eine komplette Küche, Waschmaschine, Schrank, Bett, ein Tisch, zwei Stühle. Sauber und hell. Er wirkt immer noch erstaunt über die „große Hilfe“. Mejri hat eines der großen Zimmer bekommen, an die 24 Quadratmeter. „Wir gehen davon aus, dass er bald wieder arbeitet. Und dann braucht er mehr Raum für sich“, erklärt Monika de Bruijn, die Leiterin des Übergangswohnheims. Dann steigt auch Mejris Anteil an der Miete – auf bis zu 800 Euro.
Nicht jeder bekommt ein Appartement. Monika de Bruijn drückt das so aus: „Wir schauen darauf, ob jemand im Leben vorankommen will.“ Das Zentrum verlangt Mitarbeit, etwa Termine einzuhalten. Eine Zielvereinbarung zwischen Heim und Bewohner soll das unterstreichen. Für die Regeln gibt es die Hausordnung – eine ganze Seite lang. Das Wichtigste: kein Alkohol, keine legalen und illegalen Drogen, keine Waffen, keine Gewalt. Bei schweren Verstößen fliegt jemand raus.



EIGENINITIATIVE UND ENGAGEMENT SIND GEFRAGT
Ihr Apartment halten die Bewohnerinnen und Bewohner selbst sauber. Ob das klappt, kontrollieren die Mitarbeitenden regelmäßig. Das ist auch eine Gelegenheit, um zu schauen, ob jemand, der tagelang nicht gesehen wurde, wohlauf ist. Viele Bewohner und Bewohnerinnen, sagt die Leiterin des Wohnheims, lebten früher nicht anders als die meisten Menschen – mit Familie oder allein in einer Wohnung. Bis sie durch eine Trennung, einen Unfall oder ein anderes schlimmes Ereignis noch mehr verloren: die Arbeit, die Wohnung, Hoffnung. Im Übergangswohnheim sollen sie wieder zur Ruhe kommen. Die hellen freundlichen Zimmer sollen Anreiz sein, um genauso wieder leben zu wollen.
Vom Willen allein ist das nicht abhängig. Wohnungen sind teuer. Immer mehr Menschen haben kein eigenes Dach über dem Kopf. 25.785 Wohnungslose übernachteten laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamts aus dem vergangenen Jahr in kommunalen Unterkünften und Einrichtungen in Hessen – knapp 14 Prozent mehr als im Vorjahr. Rund 2.000 Menschen lebten auf der Straße oder in Notunterkünften.
LWV UND STADT UNTERSTÜTZEN GEMEINSAM
Das Übergangswohnheim im Offenbacher Mathildenviertel ist ein Gemeinschaftswerk. Der barrierefreie Neubau mit Aufzug hat rund acht Millionen Euro gekostet. Die Miete für das Wohnheim zahlen die Stadt Offenbach und der LWV Hessen, zusätzliche Mittel gab es von verschiedenen Stiftungen. Die Möbel für die Apartments fertigte die Schreinerwerkstatt des Evangelischen Vereins für Jugendsozialarbeit an.
Anders als früher finden die wohnungs- und obdachlosen Menschen in der Gerber 15 alles unter einem Dach: die Teestube, in der sie bald wieder an internetfähigen PCs arbeiten und Veranstaltungen besuchen können, den Kleiderladen, die Fachberatung, das Ambulant Betreute Wohnen und elf Clearingbetten (drei davon für Frauen) der Stadt Offenbach für akute Krisen.
Walid Mejri hat einen Plan: Er will wieder als Leiharbeiter in einem Industriewerk in Frankfurt arbeiten. Und eine Wohnung suchen. Und in Deutschland bleiben, um seinen Sohn zu sehen. Jetzt will er aber erst einmal sein Zimmer einrichten, ein Fernseher fehlt, Pflanzen, vielleicht besorgt er noch einen Teppich. Sein Traum bleibt: ein eigenes Atelier und Mosaike restaurieren. „Das war mein Leben.“