In der Getränkeabteilung reiht sich Flasche an Flasche, Dose an Dose, sind die Getränkekisten gestapelt; wie in jedem Lebensmittelmarkt, meint man auf den ersten Blick. Aber der zweite Blick enthüllt: die Flaschen stehen da in Reih und Glied, die Etiketten wie mit dem Lineal gezogen, kein Schriftzug verrutscht nach rechts oder links, oder gar nach hinten.
Im Edeka-Markt Welker im nordhessischen Battenberg herrscht eine akribische Ordnung, vor allem in der Getränkeabteilung. Verantwortlich dafür ist Samuel Zalar, seit zweieinhalb Jahren Mitarbeiter bei Edeka. So weit, so normal, denkt man. Aber bei Samuel Zalar ist nichts normal, oder alles, ganz wie man es nimmt. Der 42-Jährige im Edeka-T-Shirt, der die Besucher sichtlich stolz durch „seine“ Getränkeabteilung führt, ist halbseitig gelähmt, gehbehindert, seine linke Hand ist verkrümmt, und seine Sprache nur sehr schwer verständlich. Seit er nach Deutschland kam, wurde der gebürtige Rumäne von seiner Familie betreut und hatte kaum Kontakt zu Menschen außerhalb der Familie. Erst einer couragierten Familienhelferin gelang es im Sommer 2016 mit viel gutem Zureden und sanftem Druck, Samuel Zalar im Berufsbildungsbereich des Lebenshilfe-Werks im Kreis Waldeck-Frankenberg unterzubringen. Dort erkannten die Mitarbeiter sein Potential und entsandten ihn in die Werkstatt des Lebenshilfe-Werks in Frankenberg-Schreufa, wo er zunächst Montagearbeiten ausführte.
WUNSCH NACH MEHR
Aber Samuel Zalar wollte mehr. Immer wieder äußerte er den Wunsch, ein Praktikum in seinem Wohnort Battenberg zu absolvieren. Ausgeguckt hatte er sich selbst den Edeka-Markt von Gregor Welker, ein großer Supermarkt am Rande des idyllischen Städtchens, das noch heute gerne damit kokettiert, dass der englische Prinzgemahl Philip (1921-2021) seinen Nachnamen Mountbatten auf die Battenberger Herkunft eines Teils der Familie zurückführte. Im Oktober 2020 war es dann soweit: Samuel Zalar konnte sein Praktikum bei Gregor Welker beginnen.
Der 46-jährige Welker, der seinen Zivildienst beim Lebenshilfe-Werk absolviert hatte, kennt keine Berührungsängste, aber auch keine falsche Rücksichtnahme: „Mit dem Wort ‚normal‘ kann ich nicht viel anfangen, alles ist normal, auch Menschen mit Behinderung sollen selbstverständlich am Leben teilhaben können.“
Welker hatte schon zweimal Praktikanten aus der Werkstatt aufgenommen, „aber es hat nicht so recht funktioniert“, sagt er rückblickend. Bei Zalar war er deshalb skeptisch, die Behinderung, vor allem die starke sprachliche Einschränkung, erschien ihm als zu gravierend. Aber er erkannte schnell, dass Samuel Zalar geistig fit war und vor allem ehrgeizig und hartnäckig. Er wollte unbedingt hier arbeiten, wusste sich schnell zu helfen, wenn etwas nicht klappte, scheute sich nicht, um Hilfe zu bitten und kam mit Zwei-Wort-Sätzen auf Deutsch und dem Google-Translater für Rumänisch gut zurecht. Doch dann setzte die Corona-Pandemie dem Projekt ein rasches Ende. Der Marktleiter versprach ihm, das Praktikum fortsetzen zu dürfen, sobald die Bedingungen wieder besser wären. Im Juli 2021 wurde Zalar dann tatsächlich erneut Praktikant. Und weil auch dieses Praktikum so gut lief, ging es in einen Betriebsintegrierten Beschäftigungsplatz über, der erste Schritt zu einer regulären Beschäftigung.
AUFTRAG ZUR INTEGRATION
„Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man aus einer Werkstatt für behinderte Menschen nie mehr rauskommt und dort sein Leben bei einem Hungerlohn fristen muss“, weist Karl-Heinz Ködding, Fachkraft für berufliche Integration (FBI) beim Lebenshilfe-Werk im Kreis Waldeck-Frankenberg, etwaige Vorurteile entschieden zurück. „Wir haben den gesetzlichen Auftrag, die Menschen in die Gesellschaft zu integrieren. Und diesen Auftrag nehmen wir sehr ernst!“ Es muss aber auch passen, das weiß auch Ködding, der allein im Altkreis Frankenberg 30 Leute in so genannten „Außenarbeitsplätzen“, außerhalb der Werkstätten, betreut. Wenn der Wunsch da ist, „draußen“ zu arbeiten, wenn Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, eine gewisse Flexibilität gewährleistet sind, „dann kann es klappen“, sagt er. Bei Samuel Zalar hat es geklappt: „Er ist super zuverlässig, immer gut gelaunt. Und das Team vor Ort hat sich darauf eingelassen.“
Auch Gregor Welker, der Inhaber des Edeka-Marktes, bestätigt: „Wir haben hier eine tolle Mannschaft, ganz unterschiedliche Menschen, die alle mitgezogen haben.“ Sie behandeln Samuel Zalar nicht anders als andere Kollegen. „Ein solches Erfolgserlebnis wie mit Samuel hatte ich die ganzen 17 Jahre als FBI noch nicht“, sagt Ködding. Denn aus dem Betriebsintegrierten Beschäftigungsplatz den Samuel Zalar jetzt zwei Jahre innehatte, wurde am 1. Oktober ein reguläres Arbeitsverhältnis. Er arbeitet nun 40 Stunden in der Woche, erhält ein Gehalt, das über dem Mindestlohn liegt, und träumt inzwischen von einer eigenen kleinen Wohnung in Battenberg. Der Edeka-Markt zahlt die Lohnkosten, erhält über das Budget für Arbeit aber weiterhin einen Zuschuss des Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen.
ERFOLG DANK ENGAGEMENT VIELER
Damit sei Zalar jetzt auch stärker für sich selbst verantwortlich, wie Ködding nüchtern erzählt, aber das heiße nicht, dass er plötzlich allein dastehe. Unterstützung endet nicht mit dem neuen Vertrag. Samuel Zalar wird seine gesetzliche Betreuerin behalten, kann jederzeit Hilfe in Anspruch nehmen und ist nicht auf sich allein gestellt. „Samuel hat sich die Anerkennung redlich verdient“, freut sich Gregor Welker. „Er hat sich das alles selbst erarbeitet.“ Dass auch er und sein Team ihren Teil beigetragen haben, will er nicht groß herausstellen. Aber Ködding verweist darauf, dass die Geduld und Ruhe, die Welker ausstrahlt, das Edeka-Team, dem er vertraut, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachdienste, die Samuel Zalars Weg begleiten, auch wichtige Faktoren dieser Erfolgsgeschichte in Sachen Inklusion sind. Er sagt: „Wir haben hier die Unterstützung der Familienhelferin, die Herrn Zalar Möglichkeiten aufgezeigt hat, eine gesetzliche Betreuerin, die mit Rat und Tat zur Seite steht, mit dem Lebenshilfe-Werk eine Institution, die den  gesetzlichen Auftrag sehr ernst nimmt, eine Fachkraft, die Unterstützung in der Werkstatt gibt und Herrn Zalar bestärkt, ein Praktikum zu absolvieren, eine Integrationsberatung, die den richtigen Riecher hat, einen Chef, der sich zusammen mit seinem Team auf das Experiment einlässt, kompetente Ansprechpartnerinnen beim LWV, und vor allem einen motivierten, mutigen, immer gut gelaunten Samuel Zalar, der zeigt, was erreichbar ist.“
HINTERGRUND
Betriebsintegrierte Beschäftigungsplätze (BiB) sind Arbeitsplätze, die von einer Werkstatt für behinderte Menschen in private und öffentliche Betriebe verlagert wurden. Der/die Werkstattbeschäftigte arbeitet in diesem Fall also in einem regulären Betrieb; durch die Werkstatt wird allerdings weiterhin eine Unterstützung am Arbeitsplatz gewährleistet. Die Kosten für Leistungen eines BiB finanziert der LWV als überörtlicher Träger der Eingliederungshilfe.
Das Budget für Arbeit ist ein Lohnkostenzuschuss für Arbeitgeber, die einen behinderten Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigen. Er kann bis zu 75 Prozent des Arbeitsentgelt betragen. Das Budget für Arbeit kann beanspruchen, wer in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeitet oder wegen der Art oder Schwere seiner Behinderung Anspruch auf einen Werkstatt-Arbeitsplatz hat. Rechtsgrundlage ist der § 61 des Sozialgesetzbuchs IX.