Ernst Klee war ein Pionier der Forschung zu „Euthanasie“-Verbrechen. Sein Nachlass in der Gedenkstätte Hadamar kann ab sofort auch online auf dem Archivinformationssystem Arcinsys recherchiert werden. Die Historikerin und wissenschaftliche Dokumentarin Dr. Esther Abel hat ihn wissenschaftlich erschlossen. Für den LWV-Blog sprach sie über die Karrieren der „Euthanasie“-Ärzte, einen Metallschrank und „Die goldene Krücke“.
Noch zu Lebzeiten hat Ernst Klee entschieden, seinen Nachlass der Gedenkstätte Hadamar zu vermachen. Wie kam das?
Esther Abel: Ernst Klee und seine Ehefrau Elke hatten beide eine besondere Beziehung zu Hadamar. Auf dem Cover von Klees bahnbrechendem Buch „Euthanasie im NS-Staat“ sind die rauchenden Schornsteine der früheren Tötungsanstalt zu sehen. Hadamar stand für ihn sinnbildlich für den Mord an den Kranken. Im Rahmen der „T4“-Aktion sind allein in Hadamar rund 15.000 Menschen ermordet worden, vor allem psychisch kranke und geistig behinderte Menschen. Daran erinnert die Gedenkstätte, der er bis zu seinem Tod 2013 verbunden blieb. Ein weiterer Impuls kam von seiner Ehefrau Elke. Im sogenannten Oflag, einem deutschen Gefangenenlager für Offiziere, das 1939 in Hadamar eingerichtet wurde, ist ihr Vater hingerichtet worden. Er war polnischer Offizier.
Wie sieht der Nachlass aus?
Wir haben zwei „Klee-Räume“ eingerichtet. Darin stehen seine Privatbibliothek mit 1454 Büchern sowie 117 Aktenordner, die zum Beispiel Notizen aus den Nürnberger Ärzteprozessen und anderen Gerichtsprozessen zu Medizinverbrechen, SS-Personallisten sowie Briefwechsel zwischen den Ärzten enthalten. Das Rohmaterial für seine Arbeit steckt in einem Metallschrank mit sechs Schubladen und 140 Hängeregistern, die nun erschlossen sind. Dazu gehören handschriftliche Notizen, persönliche Dokumente, Pläne für Radio- und Fernsehsendungen, Klageschriften und bestürzende Fotos von Menschenversuchen aus den Konzentrationslagern.
Was hat Sie bei der Aufarbeitung am meisten beeindruckt?
Ernst Klee wurde von der Historikerzunft lange nicht ernst genommen und belächelt, weil er Journalist und Sozialwissenschaftler war. Aber er hat unglaublich gründlich und sorgfältig recherchiert. Er hat Daten von rund 20.000 Menschen erhoben. Bei den Fotos von SS-Personal hat er akribisch aufgeführt, wer da zu sehen ist. Dabei hat er sich sehr systematisch mit der NS-Medizin und den Gräueltaten an Behinderten und seelisch Kranken auseinandergesetzt.
Gab es auch etwas, das Sie überrascht hat?
Ich kannte Ernst Klee als „Euthanasie“-Forscher und Aufklärer über Medizin-Verbrechen, aber dass er als Journalist bereits in den 1970er-Jahren so viel zu sozialen Missständen und gesellschaftlichen Randgruppen geschrieben hat, war mir nicht klar. So hat er zum Beispiel mehrere Wochen mit Wohnsitzlosen zusammengewohnt, um sich besser in sie einfühlen zu können. Er hat Reportagen über Aids-Kranke im Knast geschrieben, über Altersheimbewohner und psychische kranke Jugendliche. Gemeinsam mit anderen protestierte er lautstark gegen ein Urteil, das eine Urlauberin erstritten hatte, weil sie sich in ihrem Hotel in Griechenland von einer schwedischen Gruppe von behinderten Jugendlichen gestört fühlte. Das Gericht gab ihr Recht und der Reiseveranstalter musste einen Teil des Preises erstatten. Heute undenkbar. Er inszenierte die Einweihung einer Rollstuhlrampe an der Frankfurter Hauptpost und etablierte den Satirepreis „Die goldene Krücke“ für besonders behindertenfeindliche Unternehmen.
Welche Bedeutung hat der Nachlass für die Gedenkstätte?
Sowohl für die Bildungsarbeit als auch für die Forschung hat er eine sehr große Bedeutung. Damit haben wir einen großen Fundus zur Erforschung der „Euthanasie“-Täter. Zugleich haben wir die Verpflichtung, uns dem ganzen Werk von Ernst Klee zu nähern.
Sie haben die Witwe von Ernst Klee interviewt. Was hat sie berichtet?
Sie war Pfarrerin und hatte ihr ganz eigenes Berufsfeld. Sie hat erzählt, dass es ihrem Mann mit seiner Forschung persönlich mitunter nicht gut ging, dass ihn die Bilder aus den Konzentrationslagern verfolgten. So sehr, dass sie ihm manchmal den Schlaf raubten. Ernst Klee hat ja intensiv darüber geforscht, was aus den Tätern wurde. Viele von ihnen lebten in den 80er Jahren noch und waren so gut wie nicht belangt worden. Die mangelhafte strafrechtliche Verfolgung und die geringen Strafen für die Täter hat er immer wieder kritisiert.
Was hat Ernst Klee motiviert?
Er wollte die sichtbar machen, die nicht gesehen wurden. Und dazu gehörten auch die „Euthanasie“-Opfer, über die noch nichts in den Schulbüchern stand. Die Morde spielen ja auch in der Erinnerungskultur bis heute nicht die gleiche Rolle wie andere NS-Verbrechen. Erst am 29. Januar 2025 sind die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisation als NS-Opfer im Bundestag anerkannt worden. Sein Nachlass inspiriert auch dazu, uns mit diesem Nicht-Wissen-Wollen auseinanderzusetzen.

Wer nutzt den Nachlass?
Schon in den vergangenen Jahren waren zahlreiche Historiker und NS-Forscher vor Ort. Wir haben zwei Ausstellungen mit Stücken aus dem Klee-Nachlass unterstützt, darunter auch die aktuelle Präsentation des Historischen Museums in Frankfurt zur Mobilität, für die wir Bilder zum Thema Barrierefreiheit beigesteuert haben. Es gibt Anfragen von inklusiven Theaterprojekten. Und wir sind inzwischen mit dem EHRI-Portal verbunden, das Informationen über Archivmaterial zum Holocaust aus ganz Europa zugänglich macht.
Wie können Interessierte recherchieren?
Der Nachlass ist auf dem Archivinformationssystem Arcinsys weltweit abrufbar. Recherchiert werden kann nach Personen, Themen und Orten. Wer etwa den Suchbegriff „Aktion T4“ eingibt, kann auf der Detailseite die Zusammenfassung des dazugehörigen Ordners lesen. Die Akten selbst können aber nur vor Ort angeschaut werden.
Weitere Informationen:
Archinsys und www.gedenkstaette-hadamar.de und esther.abel@lwv-hessen.de