Zwei junge Schülerinnen, eine mit heller, eine mit etwas dunklerer Hautfarbe blicken erst und leicht betroffen an der Kamera vorbei.
Sie holten das Schicksal der Opfer noch einmal in die Gegenwart.

„Mit ihr starben Hoffnung und Menschlichkeit“

Bewegende Gedenkfeier auf dem Kalmenhof-Gelände

2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal. Es war und ist ein Jahr der Befreiung, Erlösung und des Endes von Gewalt, Terror und Mord durch das NS-Regime. Das betrifft auch Orte, an denen die Nationalsozialisten grausame Verbrechen und systematische Tötungen durchführten, die später in Rechtsnachfolge an den LWV Hessen übergingen. Im Rahmen der NS-„Euthanasie“ gehören Hadamar und der Kalmenhof in Idstein dazu. Jetzt gab es anlässlich des Jahrestages erstmals eine Gedenkveranstaltung für die Opfer, die der Gedenk- und Lernort Kalmenhof selbst durchgeführt hat.

Für Lara und Fatima ist es ein besonderer Augenblick. Die beiden Oberstufenschülerinnen der Idsteiner Pestalozzischule haben sich lange auf diesen Auftritt vorbereitet. Nun stellen sie in einer Feierstunde zum Gedenken an das Ende der NS-„Euthanasie“ vor 80 Jahren im Saal der Vitos Teilhabe in Idstein das Leben der Margarethe Schmidt vor. Ihre Texte, die sie selbst geschrieben haben, schildern erschütternde Szenen aus dem Leben einer jungen Frau, die nur 23 Jahre alt werden durfte und vor 80 Jahren nur wenige Schritte entfernt einen gewaltsamen Tod fand.

EINDRUCKSVOLLE RECHERCHE DER SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Margarethe Schmidt und ihr Schicksal stehen an diesem Nachmittag beispielhaft für die mehr als 800 Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die während der nationalsozialistischen Herrschaft im Kalmenhof den Tod fanden. Sie lebten in der damaligen Heil- und Erziehungsanstalt, weil ihnen psychische Erkrankungen attestiert wurden oder sie als körperlich oder geistig behindert galten. Viele von ihnen wurden ermordet.

Vor genau 80 Jahren endete dieses schreckliche Geschehen, als US-amerikanische Truppen Ende März in Idstein einmarschierten und damit das Ende des Zweiten Weltkriegs besiegelten. Zum ersten Mal hat jetzt der Gedenk- und Lernort Kalmenhof, der zur vom LWV Hessen getragenen Gedenkstätte Hadamar gehört, gemeinsam mit Vitos Teilhabe am 28. März zu einer Gedenkveranstaltung mit Angehörigen der NS-Opfer und Bürgern der Stadt Idstein eingeladen.

„KÖNNEN IHRE STIMME NOCH EINMAL HÖRBAR MACHEN“

Lara und Fatima haben gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern das Leben der jungen Margarethe recherchiert. Unter Leitung ihres Ethik- und Deutschlehrers Martin Fabjancic konnten sie die Lebensgeschichte anhand historischer Quellen rekonstruieren und in bewegenden Texten und Plakaten darstellen. 1938 kam die damals 16-jährige Margarethe wegen „erblicher Fallsucht“, wie Epilepsie damals genannt wurde, in den Kalmenhof. Sie war zugleich Zögling und Hausgehilfin und bekam in all den Jahren wohl zu viel mit von dem, was an Unmenschlichem in der Heilanstalt geschah.

Wie die Recherchen der Schüler ergaben, wurde sie Ende Januar 1945 in einen Kellerraum gesperrt und erhielt dort eine tödliche Spritze. Sie starb qualvoll am 31. Januar 1945 und wurde heimlich in einem bereits vorbereiteten Grab zweier anderer Kinder auf dem zum Gelände gehörenden Friedhof begraben. „Mit ihr starben Hoffnung und Mitmenschlichkeit“, so sagen es Fatima und Lara. Sie beklagen, dass das Schweigen der Gesellschaft bis in die Gegenwart angehalten habe. Erst auch mit den Nachforschungen der Pestalozzi-Schülerinnen und -Schüler erfährt Margarethe Schmidt späte Gerechtigkeit, „können wir ihre Stimme noch einmal hörbar machen“, wie die beiden jungen Frauen betonen.

„FÜR MENSCHLICHKEIT UND TOLERANZ EINTRETEN“

Dass das Gelände der ehemaligen Heilanstalt ein „Ort des Unrechts und Leids“ gewesen ist, hatte zuvor auch Heinz Hahn, der Leiter der Vitos-Jugendhilfe, hervorgehoben. Der Mord an den vielen unschuldigen Opfern bleibe auf immer Verpflichtung für die heutige Zeit und für alle, die junge Menschen heute begleiten und unterstützen, Verantwortung zu übernehmen. Aus der schmerzvollen Erfahrung der NS-Zeit habe die Jugendhilfe lernen müssen. Sie könne deshalb heute Vielfalt als Stärke erkennen, jeden Menschen nach seinen je eigenen Fähigkeiten in seiner Entwicklung unterstützen und den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. „Lassen Sie uns heute deshalb innehalten, der Toten gedenken und für Menschlichkeit und Toleranz eintreten“, so Heinz Hahn.

Prof. Jan Erik Schulte, der Leiter der Gedenkstätte Hadamar, hob hervor, dass das Geschehen auf dem Kalmenhof über Jahrzehnte verdrängt und verschwiegen wurde. Die Verbrechen der NS-Zeit seien in der Gesellschaft mitgetragen, die Unmenschlichkeit akzeptiert worden. Und auch wenn es keine Wiedergutmachung geben könne, so müssten doch die Namen der Verfolgten und Ermordeten wenigstens genannt und damit nicht mehr die Täter, sondern die Opfer in den Mittelpunkt gerückt werden. Nur eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gewährleiste eine menschenwürdige Gesellschaft. „Für uns ist die Erinnerung der Auftrag, Menschenwürde, Freiheit und Vielfalt zu fordern, zu fördern und zu verteidigen“, so Prof. Schulte.

DOKUMENTE NACH DEM KRIEG SYSTEMATISCH VERNICHTET

Wie schwierig und schmerzhaft diese Erinnerungsarbeit auch heute noch ist, zeigte der Einwurf eines Besuchers der Gedenkveranstaltung, der erregt auf das Schicksal seiner Mutter verwies, die im benachbarten Kinderkrankenhaus eingeschlossen gewesen sei und nur zufällig überlebt habe. Ihm erscheine es so, dass auch heute noch keiner die Wahrheit hören wolle und immer noch Lügen verbreitet würden über das Schicksal der Menschen und ihre Befreiung nach dem Ende der Naziherrschaft.

Tatsächlich sind kurz vor Kriegsende systematisch Spuren zerstört, Krankenakten, Berichte, Briefe, die „Zeugnisse der Verbrechen“, in großer Zahl vernichtet worden, erläutert die Historikerin Lisa Caspari, die den Gedenk- und Lernort Kalmenhof seit 2021 im Auftrag der Gedenkstätte Hadamar aufbaut. Vielfältigen Untersuchungen haben jedoch zahlreiche der Verbrechen ans Licht geholt, sodass der schonungslose Blick in die Geschichte heutigen Generationen deutlich zeige, „wie Unmenschlichkeit aussieht“. 

UNMENSCHLICHKEIT IMMER WIEDER IN ERINNERUNG RUFEN

Das Sterben habe bereits im September 1939 begonnen, über die Kriegsjahre hinweg habe sich das grausame Geschehen regelrecht eingespielt: „Der Kalmenhof war eine Zwischenanstalt vor dem Transport in den Tod. Hier wurden die ´Zöglinge selektiert‘ und nach Hadamar gebracht.“  Ab Mitte 1942 habe die Kinder-„Euthanasie“ ihren Lauf genommen, seien Kinder und Jugendliche mit Behinderungen getötet und hinter dem Krankenhaus in Sammelgräbern beigesetzt worden. Die katastrophalen Unterbringungsmethoden hätten zudem schwere Erkrankungen verursacht, die wiederum zum Tod vieler Opfer führten. Deshalb dürfe man heute nicht mehr schweigen, sondern müsse die Unmenschlichkeit immer wieder in Erinnerung rufen.

Am Kalmenhof ist damit 80 Jahre nach dem Ende der NS-„Euthanasie“ mit dieser Gedenkstunde ein neuer Anfang gemacht. Künftig soll das Erinnern alljährlich stattfinden. Ein Wunsch, den die Teilnehmenden der Gedenkfeier teilen, als sie Lara und Fatima und den anderen Pestalozzischülern mit Gerbera, Rosen und Tulpen zum Gräberfeld folgen und ihre Blumen dort in stillem Gedenken am Mahnmal auf dem Veitenmühlberg oberhalb des Kalmenhofs niederlegen.

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