Raus aus der Werkstatt, rein in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis, davon träumen viele Menschen mit Behinderung. Die vom LWV Hessen finanzierten Betriebsintegrierten Beschäftigungsplätze (BiB) sind dafür ein probates Mittel, sie haben sich sogar zu einer echten Erfolgsgeschichte entwickelt. Die Nieder-Ramstädter Diakonie nutzt jetzt das Format von sogenannten „After-Work-Treffen“, um interessierte Betriebe, Menschen mit Behinderung und Träger zusammenzubringen. Wir stellen zwei Beispiele vor, was BiB bewirken können.
EINE ERFOLGSGESCHICHE
Auf einem DIN-A4-Blatt hat Schadrac Ntayingi in Stichworten seinen beruflichen Weg der vergangenen zwei Jahre festgehalten. Was der 27-Jährige nüchtern mit „Mein Weg in den ersten Arbeitsmarkt“ überschrieben hat, ist eine große Erfolgsgeschichte. Geboren wurde der junge Mann in Heidelberg. Als sich zeigte, dass er kleinwüchsig ist und eine Behinderung hat, war sein Lebensweg eigentlich vorgezeichnet: Nach dem Besuch der Wichernschule in Mühltal im Landkreis Darmstadt-Dieburg – einer staatlich anerkannten Schule in Trägerschaft der Stiftung Nieder-Ramstädter Diakonie (NRD) mit den Förderschwerpunkten geistige, körperliche und motorische Entwicklung und Lernen – folgte die Eingliederung in die Werkstätten der NRD.
Menschen mit Behinderung erhalten hier Ausbildung und Beschäftigung mit dem Ziel, sie auf den regulären Arbeitsmarkt vorzubereiten und nach Möglichkeit dorthin zu vermitteln. Doch auch, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter je nach ihren Begabungen und Möglichkeiten lernen, Bauteile für die Automobilindustrie herzustellen, sich mit Datenarchivierung oder kniffligen Verpackungsarbeiten auseinanderzusetzen, ist der Schritt in Richtung regulärer Arbeitsmarkt schwer.
UNTERSTÜTZUNG AM ARBEITSPLATZ
Auf dem Weg dahin gibt es die so genannten BiB, betriebsintegrierte Beschäftigungsplätze. Der oder die Werkstattbeschäftigte arbeitet in diesem Fall also in einem regulären Betrieb; durch die Werkstatt wird allerdings weiterhin eine Unterstützung am Arbeitsplatz gewährleistet. Die Kosten für Leistungen eines BiB finanziert der Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen als überörtlicher Träger der Eingliederungshilfe. Für Jürgen Melchior, Funktionsbereichsleiter Grundsatz Einzelfallhilfe beim LWV, ist klar, dass die Entwicklung der BiB seit Jahren eine Erfolgsgeschichte ist: „Mittlerweile sind mehr als zehn Prozent der Werkstattbeschäftigten auf BiB beschäftigt. Das sind ca. 1.700 Menschen. Der stetige Anstieg ist ein Erfolg aller Beteiligten.“
Und beteiligt sind viele: Wenn Schadrac Ntayingi erzählt, vergisst er nie die Namen all der Menschen, die ihn auf seinem Weg unterstützt und begleitet haben. Schließlich ist er seit seinem siebten Lebensjahr auf unterschiedlichen Stationen in der NRD gewesen. Offen, freundlich, immer höflich, pflichtbewusst, so beschreiben ihn die Kolleginnen und Kollegen. Besonders eng ist immer noch der Kontakt zu Hannah Obach, seiner ehemaligen BiB-Begleiterin aus der Werkstatt: „Aber jetzt bin ich nur noch Kollegin“, sagt sie mit einem Lächeln, dem man den Stolz über die Entwicklung des jungen Mannes anmerkt. Denn seit dem 1. Juli arbeitet Schadrac Ntayingi auf dem regulären Arbeitsmarkt. Zum Einstand gab es sogar einen kleinen Sektempfang und eine offizielle Begrüßung im Team: „Da kam eine Wolke Glück vorbei“, so hat es Hannah Obach empfunden. Damit die auf den Weg kommt, braucht es immer jemanden, so weiß Obach, der das Können der Menschen erkennt und fördert. Angefangen hatte alles mit einem BiB.
VOLLZEITSTELLE IN DER VERWALTUNG
In der Verwaltung der Nieder-Ramstädter Diakonie ist Ntayingi jetzt auf einer Vollzeitstelle im Bereich Teilhabe tätig, die mit dem Budget für Arbeit finanziert wird. Er erledigt Botengänge für Rechnungswesen und IT, für die er auch die Firmenhandys auf den neusten Stand bringt. Außerdem unterstützt er die Kommunikationsabteilung bei der Archivarbeit oder fotografiert Gesprächspartner für die NRD-Öffentlichkeitsarbeit. Ein besonderes Anliegen ist ihm die Rubrik „Mitarbeiter fragen Mitarbeiter“, für die er schon zehn Interviews geführt hat. Und natürlich seine Arbeit als Leiter der Peer-Beratung in einem Projektteam, das Inklusion und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung fördern will. Eine eigene kleine Wohnung konnte er im Sommer auch beziehen: „Das hat sich alles so gut gefügt“, betont der 27-Jährige, „ich bin einfach glücklich.“
DIREKTE KONTAKTE ZWISCHEN ARBEITGEBERN UND WERKSTATT-BESCHÄFTIGTEN
Dass solche Perspektiven auch für andere Werkstatt-Beschäftigte möglich werden, ist das erklärte Ziel der Nieder-Ramstädter Diakonie. Beim inklusiven „After-Work-Treffen“ des NRD-Bereichs „Betriebsintegrierte Beschäftigungsplätze“ konnten erstmals mögliche neue Arbeitgeber direkt Kontakte zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Werkstätten knüpfen. Sascha Jacob, Teamleiter der LWV-Einzelfallhilfe Darmstadt-Dieburg, lobt das Konzept: „Das ist ein neuer Ansatz, um die gemeinsamen Interessen von Menschen mit Unterstützungsbedarf und potentiellen Beschäftigungsgebern zusammenzubringen. Denn nicht nur vor dem Hintergrund des viel diskutierten Fachkräftemangels können Beschäftigte aus Werkstätten einen wichtigen Beitrag zum unternehmerischen Gewinn leisten, sie bereichern auch das soziale Gefüge in den Unternehmen.“
Die Geschichte von Theresa Stute ist ebenfalls eine Erfolgsstory, auch wenn sie sich den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt noch nicht vorstellen kann. Ihr Ziel ist erstmal ein unbefristeter Arbeitsvertrag, denn mit ihrem BiB hat sie nach ihrem Empfinden das große Los gezogen: Das ist, wie sie selbst sagt, „ein Arbeitsplatz zum Wohlfühlen“. Die 26-Jährige mit den blonden Haaren arbeitet seit vier Jahren beim inhabergeführten Baumarkt Schwinn in Mühltal. In der Tierabteilung sortiert sie Ware, füllt die Regale auf, kümmert sich um die Tiefkühlschränke mit Hundefutter, aktualisiert die Preise und berät Kunden. Auch vor neuen Aufgaben, etwa in der PC-gestützten Warenverarbeitung, schreckt die junge Frau mit der Behinderung nicht zurück: „Mir hat der Kopf gebrannt, aber ich will das schaffen“, erzählt sie. „Früher war ich schüchtern und habe mich nie getraut, um Hilfe zu bitten, aber jetzt bin ich ganz anders.“
Das bestätigt auch ihr Jobcoach Thomas Lambert von der Diakonie. Mit Theresa Stute, ihrem Arbeitgeber und den betreuenden Kolleginnen und Kollegen hat er einen genauen Plan erstellt, um die Einarbeitung und Beschäftigung sicherzustellen. Bei Schwierigkeiten ist er immer ansprechbar. Aber er weiß auch, wie viel von den Mitarbeitern vor Ort abhängt. „Hier lässt man ihr Zeit, unterstützt sie, fordert sie aber auch, immer in dem Bewusstsein, jeder sollte die Chance haben, sein Talent zu zeigen.“
WEITERE AFTER-WORK-TREFFEN GEPLANT
Passenderweise stand auch der erste After-Work-Abend der NRD unter dem Motto „Mitarbeitende mal anders gedacht“. Dabei gab es jede Menge Informationen darüber, wie sich Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen so etablieren lassen, dass beide Seiten gewinnen. Und natürlich haben Theresa Stute und Schadrac Ntayingi dabei Werbung für ihre Erfolgsgeschichten gemacht. Weitere „After-Work-Treffen“ sollen bald folgen.