Das gibt es kein zweites Mal in Gießen und auch nicht allzu oft in Hessen: Im Haus Stolzenmorgen leben Menschen jeden Alters zusammen, die einen mit Behinderung und Unterstützungsbedarf, die anderen ohne. Allein, als Paar, in einer WG oder als Familie. Kein Türschild weist auf die Lebenshilfe hin. Von außen anonym und drinnen umso persönlicher.
Heute Morgen hatte Clara den Frühdienst von 6.30 bis 8.30 Uhr. „Ich sorge dafür, dass alle pünktlich aufstehen, frühstücken und rechtzeitig zur Arbeit kommen.“ Clara, 19, studiert Ernährungswissenschaft und ist „ein Mitbewohni“. Max, 29, hatte heute Morgen keine Eile; er sucht noch nach der richtigen Beschäftigung. Fünf Ausbildungen habe er angefangen und abgebrochen. Nach einem Sturz lag er im Koma. Er beugt sich in seinem Rollstuhl vor, eine lange Narbe verläuft quer über dem Hinterkopf. Max findet es schön hier. Es tue ihm gut, mit so vielen Menschen zusammen zu sein und fast immer jemandem zum Reden zu haben.
In der „WG am Flughafen“ im ersten Obergeschoss, der zweiten inklusiven Wohngemeinschaft der Lebenshilfe in Gießen überhaupt, leben zehn Menschen zwischen knapp 20 und fast 60 Jahren. Fünf von ihnen haben eine geistige und/oder körperliche Behinderung und brauchen Unterstützung. Die anderen sind Studierende und abwechselnd zuständig fürs Frühstück, einmal wöchentlich fürs Abendessen und einmal im Monat für die Gestaltung des Wochenendes. Für Vollzeitbeschäftigte wäre die inklusive WG nicht geeignet. Ihnen würde die Zeit für die Unterstützungsleistungen fehlen. Der Pflegedienst und das Team für inklusives Wohnen übernehmen Körperpflege und sozialpädagogische Betreuung.
KONZEPT, DAS MAN WOLLEN UND LEBEN MUSS
Nur Dienste abzureißen und sich ansonsten ins eigene Zimmer zurückzuziehen, so funktioniert das WG-Leben nicht. Zusammen Wohnen heißt: Zeit miteinander zu verbringen, Filme schauen, puzzeln, kochen, essen, unterwegs sein, spielen, auf dem Balkon sitzen, Karaoke singen. Als sie auf der Suche nach einem WG-Zimmer die Anzeige der Lebenshilfe entdeckte, wusste Studentin Clara nicht, dass sie „als Mitbewohni“ keine Miete zahlen muss. Sie fand einfach das Konzept gut. Lea, 24, angehende Kindheitspädagogin, „liegt Inklusion am Herzen“. Olivia, 27, demnächst Förderschullehrerin, hatte eine TV-Dokumentation über eine inklusive WG gesehen und sich „ins Konzept verliebt“.
Klingt karitativ. Dabei haben während ihres Zusammenlebens so gut wie alle ihre Perspektive aufeinander verändert. „Mit uns wohnt eine Frau, die unglaublich lustig und aufgeschlossen ist und genau weiß, was sie will“, erzählt Clara. Max merkte erst dank der WG, wie sehr er sich selbst durch den Blick der Fußgänger sieht. „So lange, bis mir Olivia sagte, dass ich mich zu sehr auf den Rollstuhl konzentriere, dabei ginge es doch um den Typen, der drinsitzt.“ Und „Mitbewohni“ Agnes, die angehende Psychologin, hat vorher nicht registriert, wie viele Bürgersteige für Menschen im Rollstuhl unüberwindlich und wie viele Aufzüge dauernd defekt sind.
ZEHN VERSCHIEDENE CHARAKTERE, DA GIBT ES AUCH MAL STREIT
„Mummelig“ sei es in der WG, sagt Lea, innig und liebevoll. „Wenn ich mal zwei Tage nicht da bin, vermisse ich die anderen“, ergänzt Olivia. Und doch: Bei zehn verschiedenen Charakteren gibt es auch Streit und Nervereien. Ein Thema fürs nächste WG-Plenum. Am langen Tisch in dem großen Wohnzimmer mit der Sofalandschaft. Dort haben Eric und Isabel Silvester mitgefeiert. Weil es oben in der inklusiven WG den meisten Platz im ganzen Haus gibt. Eric und Isabel wohnen zum ersten Mal in ihrem Zwei-Zimmer-Appartement im selben Haus zusammen. Wie ist das? „Schön“, sagt Eric und lächelt. Pause. „Wir können machen, was wir wollen.“
LWV IST ALS FINANZIELLER FÖRDERER MIT IM BOOT
Das Paar hat eine der 21 barrierearmen Wohnungen für Menschen mit und ohne Behinderung ergattert. Für solche Wohnungen, die mit Fahrstuhl erreichbar und ohne Schwellen und mit breiten Türen ausgestattet sind, gebe es eine große Nachfrage in Gießen, sagt Jan Hillgärtner, zuständig für den Bereich Wohnen in der Lebenshilfe. Auf dem freien Wohnungsmarkt stießen Menschen mit Behinderung, angewiesen auf Grundsicherung, oft auf Vorbehalte. Mit ein Grund, in dem Haus Stolzenmorgen barrierearme Wohnungen zu bauen. Finanziert werden die Bewohner und Bewohnerinnen, auch diejenigen in der WG mit Unterstützungsbedarf, vom LWV. Der hatte auch schon den Bau der Anlage mit mehr als einer halben Million Euro finanziell gefördert.
Hilfe erhalten Eric und Isabel von dem gleichen Team, das für die inklusive WG zuständig ist. Mit der Sozialpädagogin Sandra Wenzel geht Eric einkaufen, sie koordiniert Arzttermine, hilft bei Formularen und Post oder findet heraus, wo die beiden Karaoke singen können.
Das Konzept der Lebenshilfe ist es, möglichst eigenständiges Wohnen unter einem Dach umsetzen – in guter Nachbarschaft und wie in einer großen Hausgemeinschaft. Dabei fällt das Haus auf dem ehemaligen Areal der US Army nicht auf. Das ist so gewollt. „Die Menschen fühlen sich oft stigmatisiert, wenn auf unseren Bussen oder Einrichtungen ein Hinweis auf die Lebenshilfe steht“, sagt Jan Hillgärtner.
VIELE WEITERE PROJEKTE UND ANGEBOTE BEREICHERN DAS HAUS
Im Haus ist auch das Projekt der „begleiteten Elternschaft“ untergebracht. Hier werden Mütter und Familien beim Zusammenleben und Aufwachsen ihrer Kinder unterstützt. Rund um die Uhr ist jemand für sie da. Und der vierjährige Marek (Name geändert), der mit seiner Mama in einer der vier Wohnungen lebt, hat einen kurzen Weg in seine Kita. Über den Flur zum Fahrstuhl und runter ins Erdgeschoss. Dort besucht er das Kinder- und Familienzentrum „Sophie Scholl“. Hier haben 60 Kinder viel Platz. Das Außengelände, das die Familien der Begleiteten Elternschaft auch am Wochenende gerne besuchen, ist wie ein riesengroßer Tummelplatz zum Schaukeln, Wippen, Klettern und Rutschen.
Eine Besonderheit ist das Familienzentrum, das nach Bedarf für Supervision, Teamsitzungen, Erziehungsberatung und Elterncafé genutzt wird. Im Kinder- und Familienzentrum wird viel Wert auf Austausch gelegt. „Wir wollen wirklich wissen, was die Eltern denken“, sagt die Leiterin Sarah-Jane Taylor. Schließlich greifen das System Kita und das System Familie ineinander. Zu den fünf Prinzipien gehört neben der Beteiligung der Eltern auch Beratung, Bildung, Betreuung und Begegnung. Immer zum Wohl des Kindes.
Das gesamte Projekt ist eine echte Erfolgsgeschichte, auch dank der Förderung des LWV. Und so hat auch Dirk Oßwald, Vorstand der Lebenshilfe Gießen, das Haus Stolzenmorgen schon vor einiger Zeit als etwas Besonderes bezeichnet: Alle gemeinsam unter einem Dach, das sei „ein regionaler Leuchtturm der Inklusion“.