„Tonaufnahme“ ist auf einer Digitalanzeige zu lesen. Im Saal herrscht gespannte Arbeitsatmosphäre. 55 Musikerinnen und Musiker sind in ihre Notenliteratur vertieft und entschlossen, den Anweisungen ihres Kapellmeisters genau zu folgen. „Takt 12 war nicht hundert Prozent zusammen“, ruft Oberstleutnant Tobias Terhardt hinterm Dirigentenpult hervor. „Sonst war alles super. Nochmal. Auf geht’s.“
NEUE CD FÜR DEN GUTEN ZWECK
Ungewöhnliche Klänge dringen aus dem Ständesaal des LWV Hessen. Mal sind es bekannte Popmelodien, mal ein schwungvoller Walzer von Johann Strauß, ein Militärmarsch oder Blockbuster-Filmmusik, die durch das ehrwürdige Haus am Kasseler Ständeplatz wehen. Eine Woche lang hat das Heeresmusikkorps Kassel den geschichtsträchtigen Ort zum Tonstudio umfunktioniert. Das ist für alle Beteiligten eine Premiere. Anlass ist die Produktion einer CD, die nächstes Jahr zugunsten des Vereins Kuratorium Aktion für behinderte Menschen verkauft werden soll.
„Eine aufregende Sache“, sagt Oberstabsfeldwebel Markus Klöppner, der für die Öffentlichkeitsarbeit des Heeresmusikkorps zuständig ist: „Sowas macht man nicht jeden Tag.“ Die letzte CD war 2019 entstanden: die Live-Aufnahme eines Konzerts beim Kasseler Altstadtfest. Jetzt also wird es eine geschliffene und getunte Studioversion geben. Die Location, die sich das Heeresmusikkorps dafür gewünscht hat, der Saal des Ständehauses, trägt in seiner repräsentativen Ehrwürdigkeit zur Konzentration der Musiker bei, sei aber vor allem wegen seiner guten Akustik ausgewählt worden, sagt Klöppner. „Bei den Konzerten, die wir hier in der Vergangenheit gegeben haben, waren die Musiker jedes Mal vom Raumklang begeistert.“
VIELE LIVE-AUFTRITTE UND KONZERTE
Sie sind musikalische Multitalente und können – auf hohem Niveau – so gut wie alles und sogar gleichzeitig: satten Bläsersound, pointierte Perkussion und vielstimmigen Chorgesang. Ihr breites Repertoire reicht von Chorälen über Klassik bis zum Schlager. Und natürlich können sie auch Märsche, ihr Kerngeschäft. Schließlich handelt es sich um ein Militärorchester, das einzige der Bundeswehr in Hessen. Früher gehörten die Musiker zu der in Kassel stationierten 2. Grenadierdivision. Die Division wurde aufgelöst, das Heeresmusikkorps blieb. Die Profis – darunter 40 Prozent Frauen – treten bei militärischen Veranstaltungen wie Gelöbnissen und Kommandowechseln auf, aber auch für Benefiz- und Open-Air-Konzerte. Mit rund 120 Auftritten im Jahr handelt es sich um ein Orchester, das seinem Publikum viele Live-Erlebnisse bietet und entsprechend treue Fans hat. Seit neun Jahren steht – agil und mit jugendlich-freundlicher Ausstrahlung – Tobias Terhardt am Dirigentenpult. Er ist nicht nur Kapellmeister, sondern, wie es offiziell heißt, auch der „Disziplinarvorgesetzte“ der auffallend jungen Musiker. Von ihnen wird er gesiezt und mit „Oberstleutnant“ angesprochen. Man sei ja beim Militär, sagt Klöppner.
HEERESMUSIKKORPS SETZT SICH FÜR MENSCHEN MIT BEHINDERUNG EIN
Die Aufnahme der CD nimmt eine ganze Woche in Anspruch. Da ist es gut, dass sich die Musiker im Ständehaus ausbreiten dürfen. Der Konferenzraum neben dem Saal dient als Aufenthaltsraum, wo sich die Musiker bewegen können, wenn sie nicht im Einsatz sind. Da wird dann gegessen, gelesen und sogar gestrickt. Hin und wieder wird aufs schwarze Brett geblickt mit dem Aushang der Tracks für die geplante CD. Sie soll beginnen mit „Der Jäger aus Kurpfalz“, dem Kasseler Truppenmarsch, und enden mit „Alte Kameraden“ von Carl Teike. Die Vorfinanzierung der Produktion hat das Kuratorium Aktion für behinderte Menschen Region Kassel übernommen. Deshalb schaut auch Kuratoriumsvorsitzende Petra Friedrich, die hauptberuflich beim LWV arbeitet, während der Aufnahme im Ständehaus vorbei. Sie freut sich für den Verein, dem später der CD-Verkaufserlös zugutekommt. Bereits in der Vergangenheit waren Gewinne von Benefizkonzerten des Heeresmusikkorps in Projekte für Menschen mit Behinderung geflossen.
AUCH DIE KLEINSTEN FEHLER WERDEN GEHÖRT UND KORRIGIERT
Für die Aufnahmeleitung konnte Oberstleutnant a. D. Walter Ratzek gewonnen werden. „Ein Glück für uns“, sagt Tobias Terhardt. Ratzek sei erfahren und anspruchsvoll, „außerdem kennt er uns gut.“ Der ehemalige Leiter des Ausbildungsmusikkorps der Bundeswehr war von 1989 bis 1995 Orchesterchef in Kassel. Ratzek führt streng Regie. Kleine Fehler hört er sofort. Immer wieder ertönt seine Stimme aus dem Off der Ton-Regie, die sich in der Empfangsloge des Ständehauses eingerichtet hat: „Das machen wir noch mal.“
Für Außenstehende rätselhafte Ansagen verstehen die Musiker sofort: „Die Sechzehntel an den Hölzern muss ein bisschen griffiger kommen“ oder „Die große Trommel sollte einen kleinen Tuck nach hinten spielen“. Aber nicht nur Kritik, sondern auch Lob kommt aus der Kommandozentrale: „Alles prima. Noch einen und dann haben wir‘s.“ Bevor sich Ratzek mit Tonmeister Thomas Schmidt und Tontechniker Wolfgang Krois, die mit ihrem großen Equipment aus Landsberg angereist sind, wieder auf die Diagramme und Säulen auf den Bildschirmen des Mischpults konzentriert, sagt er: „Das ist ein sehr, sehr gutes Orchester. Ich freue mich, dass ich mit ihm arbeiten darf.“
MIT DER HERAUSFORDERUNG WÄCHST DIE TRUPPE
Und was sagen die Musiker? Nerven sie die Kritteleien und Wiederholungen? „Überhaupt nicht“, sagt Oberfeldwebel Marie Huwe (25 Jahre alt), die das Waldhorn spielt. „Es ist toll, dass wir dieses professionelle Feedback bekommen. Ich empfinde es als Wertschätzung. Die hohen Qualitätsansprüche bringen uns nach vorne.“ Marie Huwe studiert an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf. Diese hat eine Kooperation mit dem Ausbildungsmusikkorps der Bundeswehr in Hilden, wo alle Militärmusikerinnen und -musiker während ihrer Zeit des fünfjährigen Studiums bis zum Bachelor stationiert sind, um dort die notwendige zusätzliche militärmusikalische Ausbildung zu bekommen. In eine „tollen Truppe“ sei sie aufgenommen worden, sagt die Frau aus Speyer. Alles sei top: die Professionalität, die Kameradschaft.
Christian Schmidt (46 Jahre alt) an Klarinette und Gitarre ist ebenfalls begeistert: „Die Produktion schweißt uns noch mehr zusammen und formt uns als Orchester.“ Hochmotiviert ist auch der Chef. „So eine Aufnahme unter Walter Ratzeks Leitung ist anstrengend, aber macht auch riesigen Spaß. Man kann regelrecht zuschauen, wie wir wachsen“, sagt Tobias Terhardt. Er ist überzeugt: „Die CD nächstes Jahr wird ein Hit.“
2 comments
Ein toller Artikel über die CD-Aufahme des Orchesters, in dem ich 14 Jahre Mitglied dein durfte!
Das einzige, was etwas eigenartig ist, ist die Audioversion des Artikels…
Schön, dass Ihnen der Artikel gefällt. Danke auch für den Hinweis zur Audioversion, wir kümmern uns darum.
Viele Grüße vom LWVblog-Team