Dušan von der LWV-Förderschule in Friedberg weiß alles über Louis Braille. Wie der als Dreijähriger durch einen Unfall in der Werkstatt seines Vaters das Augenlicht verlor und mit 16 Jahren die Punktschrift erfand. Die zwei trennen zwar 200 Jahre. Aber es war Louis Braille, der dem 15-jährigen Dušan das Tor zur Welt der Geschichten geöffnet hat. Einem Siebtklässler der Johann-Peter-Schäfer-Schule, Erklär-Profi und Lese-Ass.



Dušan unterbricht fürs Interview die Mathestunde. Nicht ungern. „Der Dreisatz“, den sie gerade lernen, „der war auch bissi schwer.“ Mal kurz die Klasse verlassen, um fotografiert und befragt zu werden, genießt er. Dušan erklärt gern. Und gut. Als könnte er in die Köpfe von Sehenden gucken und erkennen, was sie nicht verstehen.
AUF DEM HESSENTAG UND IM FERNSEHEN
Beim Hessentag 2024 in Fritzlar hat er am Stand des Landeswohlfahrtsverbandes die Namen der Besucherinnen und Besucher mit der Punktschriftmaschine getippt und ihnen als Armband mitgegeben. Das war nichts gegen seinen Auftritt im Fernsehen. Kurz vor Weihnachten filmte ihn ein Team, wie er mit dem weißen Stock den Flur der LWV-Schule entlangläuft, im Klassenraum ein Buch aufschlägt und liest.
Die Filmleute wollten das genau wissen – ist ja für die Kinder-Nachrichtensendung Logo – und Dušan erklärt. Wie er, der nur hell und dunkel unterscheiden kann, einhändig und mit dem Zeigefinger („Das ist mein Lesefinger“) über die Punkte fährt. „Ich war sehr aufgeregt.“ Aber cool sei es gewesen. Obwohl er, jetzt muss er doch kichern, erstmals seinen Stimmbruch hörte. Einen USB-Stick mit dem gesendeten Beitrag bewahrt Dušan für sich auf.
AUF DER GANZEN WELT DURCHGESETZT
Ein kluges und logisch aufgebautes System: Die Braille-Schrift basiert auf sechs Punkten. Die Buchstaben unterscheiden sich nach Position und Kombination der Punkte in einem Raster von zwei Spalten. Das „L“ zum Beispiel sind drei übereinander liegende Punkte, beim „K“ fehlt der mittlere Punkt. Nur das „W“, das in der französischen Sprache fehlt, muss im Deutschen ergänzt werden. Großschreibung, Satzzeichen oder Ziffern – für alles hat sich der junge Franzose eine Regel ausgedacht.



Wie sich die Braille-Schrift in allen möglichen Sprachen der Welt durchsetzte, auch in den Alphabeten der russischen und griechischen Sprache, als Spezialschriften wie Braille-Musik-, Braille-Schach- oder Braille-Strickschrift, als Kurz- und Vollschrift, erlebte Louis Braille nicht mehr. Erst 1878, 26 Jahre nach seinem Tod, wurde sein System als internationale Blindenschrift offiziell anerkannt.
Und ist Stoff für die Schülerinnen und Schüler der Grundstufenklasse Blind an der Johann-Peter-Schäfer-Schule mit dem Förderschwerpunkt Sehen. In dieser Klasse lernen die Dritt- und Viertklässler gemeinsam. Sie sind blind oder haben einen so geringen Sehrest, dass Buchstaben so stark vergrößert werden müssten, als wären sie Boulevardzeitungs-Überschriften. Das taugt aber nicht zum Lesen.
AM COMPUTER SCHREIBEN LERNEN
Samid beugt sich tief über die Tastatur. Das Schreiben lernte er auf der mechanischen Punktschriftmaschine. Dort werden die für jeden Buchstaben notwendigen Tasten gleichzeitig gedrückt – ein bisschen „Schmackes“ kann nicht schaden, damit sich die Punkte auf der Rückseite in das Blindenschriftpapier prägen und auf der Oberfläche kleine Erhebungen bilden.
Der Drittklässler kann aber längst auch am Computer schreiben. Er zieht die Tastatur unter der Schublade hervor und die Kopfhörer auf und wartet, was ihm die Computerstimme vorliest. Dann drückt er „W“ für Word. Schon öffnet sich ein Dokument. Weil Blinden eine Maus nichts nützt, übersetzt eine Software, was auf dem Bildschirm zu sehen ist.



MIT BRAILLE FIXER LESEN
Samid tippt auf einer Schwarzfeldtastatur, also einer Tastatur wie für Sehende. Ob er alles richtig geschrieben hat, überprüft er, indem er auf der darunterliegenden Braillezeile das Worddokument zeilenweise abtastet. Dabei werden die Punkte entsprechend der getippten Worte nach oben gedrückt. Samid könnte sich den Text auch über die Sprachausgabe vorlesen lassen. Aber Schnellleser sind mit Braille fixer. Der Elfjährige kann nur noch Umrisse unterscheiden. Aber wie alles aussieht, „daran kann ich mich noch super erinnern, auch an Farben.“ Samid erkrankte mit vier Jahren an einem Gehirntumor und verlor seine Sehfähigkeit. Viele seiner Mitschülerinnen und Mitschüler sind von Geburt an blind.
So wie Lennart, 12, der Computer, Handy, Voiceover, eben alles nutzt, was ihm das Sehen ersetzt. Während der Viertklässler erzählt, dreht er einen flachen Stein zwischen seinen Händen – so groß wie ein Esslöffel ohne Stiel. Das soll ihn beruhigen. „Den zu verlieren wäre genauso, wie ein Kuscheltier zu verlieren.“ Vor allem soll ihn das Drehen und Wenden davon abhalten, mit den Händen in die Augen zu greifen. Wenn er es doch tut, sieht Lennart „wirbelnde Dinge“, angenehm sei das. „Und für ein paar Sekunden ist es heller.“ Durch Druck auf die Augen provozieren die Kinder vermutlich Lichterscheinungen wie Sterne, um ihr Gehirn zu stimulieren, heißt die Erklärung für dieses Phänomen.



EIN BUCH ÜBER BRAILLE IN BRAILLE
Zurück zu Dušan. „Magst du erzählen, warum du so viel über Louis Braille weißt?“, fragt seine Teilhabeassistentin Gabriele Schön. Ach ja, das kam so: Dušan wusste, dass in einem Regal der Schulbibliothek ein Buch über das Leben von Louis Braille steht. In Schwarzschrift, also in der Schrift der Sehenden. Aber man muss eine Idee haben und Frau Schön. Sie las vor und er tippte im Zehn-Finger-System – Zeile für Zeile, Seite für Seite – am Computer. Das dauerte um die anderthalb Jahre. Dušan hat auch gedrängelt. „Ich wollte wissen, wie es weitergeht.“ Zum Schluss hat Gabriele Schön korrigiert, das Inhaltsverzeichnis eingefügt und alles ausgedruckt. Drei gebundene Brailleschrift-Exemplare stehen seitdem in der Schulbibliothek. Dank Dušan ist dieses Buch keinem blinden Menschen mehr verschlossen.
Er ist ein Schnell- und Vielleser. Ein Anruf beim Deutschen Zentrum für barrierefreies Lesen in Leipzig genügt und es dauert nicht lange, bis der Paketbote in Koffern die ausgeliehenen Bände herbeischleppt. Denn ein Harry-Potter-Buch in Punktschrift besteht aus vier oder fünf Bänden. Krabat, Die unendliche Geschichte, die Tintenwelt-Geschichten von Cornelia Funke – alle hat er gelesen. Dazu Hörbücher und Filme, für die allerdings eine Audiodeskription, also eine akustische Bildbeschreibung, vorliegen muss.



WUNSCH: „BRAVO“ IN BRAILLE
Ist die Braille-Schrift angesichts der vielen Hörbücher, Podcasts und digitalisierten Sprachausgaben noch notwendig? „Ohne Punktschrift? Hey, wieso sollten die Bücher abgeschafft werden?“ Dušan würde das doof finden. Die Braille-Schrift befreite die blinden Menschen vom Analphabetentum, heißt es auf einer Info-Karte mit dem Blindenschrift-Alphabet. „Die Braille-Schrift ist eine unglaubliche Errungenschaft“, sagt die Schulleiterin Verena Trebels, die übrigens auch Blindenschrift lesen kann, aber mit den Augen. Schrift sei die Grundlage für Bildung und Teilhabe.
Wenn sich Dušan was wünschen dürfte, muss er nicht lange nachdenken: alle Filme mit Audiodeskription, vor allem Harry Potter, die Biografie von seinem Lieblingssänger Roland Kaiser in Punktschrift und die Jugendzeitschrift „Bravo“ in Braille.
4 comments
Ein sehr schön geschriebener Artikel! Vielen Dank und herzliche Grüße aus der Johann-Peter -Schäfer-Schule!
Hallo Frau Trebels.
Herzlichen Dank für Ihren Kommentar und das Lob. Danke auch an Sie, die beteiligten Schüler und die Johann-Peter-Schäfer-Schule. Es ist immer wieder interessant, spannend und lehrreich mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Wir freuen uns schon auf die nächsten Themenideen.
Viele Grüße vom LWVblog-Team
Sehr interessanter Artikel, der mich sehr berührt hat.
Hallo Frau Lippert,
schön, dass Ihnen der Artikel gefällt. Danke, für Ihren Kommentar. Es ist wirklich beeindruckend, begeisternd und motivierend, wie die Schülerinnen und Schüler der Johann-Peter-Schäfer-Schule ihre Beeinträchtigungen annehmen und den Schulalltag meistern und aktiv mitgestalten. Tolle Schule, Spitzen-Lehrkräfte, super Kinder.
Viele Grüße vom LWVblog-Team