Aktenordner statt Werkbank, Computer statt Landwirtschaft, Werkhalle statt Büro – und umgekehrt: Einen Tag lang haben Klientinnen und Klienten aus Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) ihre Arbeitsplätze mit Beschäftigten des Landeswohlfahrtsverbands (LWV) in Kassel, Wiesbaden und Darmstadt getauscht. Ganz nach dem Motto: raus aus dem gewohnten Alltag und hinein in eine völlig neue Jobwelt. „Schichtwechsel“ heißt der jährliche bundesweite Aktionstag der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V. (BAG WfbM), der kürzlich wieder stattfand – mit dem Ziel, durch den Job-Tausch neue Sichtweisen zu verschaffen sowie Inklusion und den Austausch zwischen Menschen mit und ohne Behinderung voranzubringen. Auch in der Absicht, Arbeitgeber für die Umsetzung eines inklusiven Arbeitsmarktes zu gewinnen.


Für Lisa Marie Fritz war die Hauptverwaltung des LWV bislang nur eine Behörde, die weit weg von ihrem eigenen Alltag ist. „Ich kannte den LWV nur vom Hören und von Briefen, die ich erhalte“, sagt die 27-Jährige, die normalerweise im Bereich Hauswirtschaft der Für Uns-Manufaktur der Hephata Diakonie in Fritzlar, einer Werkstatt für Menschen mit psychischen oder Suchterkrankungen, arbeitet. Umso spannender fand sie die Einblicke in den LWV, die sie am Aktionstag bekam. Unter anderem erfuhr sie von Christian Hilgenberg einiges über die Abläufe im Bereich Sachbearbeitung, wenn Menschen mit Behinderung einen Antrag auf Unterstützungsleistungen der Eingliederungshilfe beim LWV stellen.
Auf die Suche nach ihrer eigenen Akte begab sich derweil Diana Baraniak, die in der Für-Uns-Manufaktur von Hephata in der Metallverarbeitung tätig ist. Auch wenn die Digitalisierung immer weiter voranschreitet, lagern in der LVW-Registratur, die insbesondere für die Verwaltung von Dokumenten zuständig ist, noch immer tausende Papier-Akten. Die Aktion Schichtwechsel sei eine schöne Möglichkeit, „mal rauszukommen“ und andere Arbeitsfelder kennenzulernen, erzählte Baraniak nach dem Rundgang.
HEPHATA: VON BÜRSTEN UND SCHUHLÖFFELN


In die Für-Uns-Manufaktur von Hephata in Fritzlar schnupperten im Gegenzug die LWV-Beschäftigten Jannik Liesegang, angehender Fachinformatiker, und Ann-Christin Feige aus dem Personalbereich hinein. In der Schreinerei-Werkstatt ging es für die beiden darum, Schuhlöffel auf Produktionsfehler zu kontrollieren und ausgesägte Holztannenbäume glattzuschleifen. Liesegangs Resümee: „Die praktischen Aufgaben haben Spaß gemacht – und nebenbei konnte man sich gut mit den Beschäftigten austauschen.“ Ann-Christin Feige betonte: „Besonders gefallen hat mir der Austausch mit den Menschen hier. Und das Gefühl, am Ende des Tages ein fertiges Arbeitsergebnis in den Händen zu halten.“
STATT MONTIEREN BRIEFE SORTIEREN
Wie findet die Post ihren Weg zum LWV und anschließend im Haus zu den richtigen Sachbearbeitern? Das erklärte Mitarbeiter Michael Geister aus der LWV-Poststelle Sabrina Dudek und Daniel Schäfer, beide aus der Industriemontage der Hephata-Werkstätten in Schwalmstadt-Treysa. „Etwa drei Kisten mit Briefen kommen hier jeden Tag an“, berichtete Geister. Anschließend müssten die Umschläge sortiert und verteilt, teilweise auch eingescannt und digital weitergeleitet werden. Ob sie sich eine Arbeit hier vorstellen könnten? „Ja, auf jeden Fall“, so Daniel Schäfers Kommentar.


Währenddessen waren Levi Kind, Auszubildender beim LWV, und stellvertretender Ausbildungsleiter Stefan Gerlach in Schwalmstadt-Treysa bei Hephata im Einsatz. In der Bürstenmacherei probierte sich Kind mit viel Fingerspitzengefühl beim Fertigen von Backpinseln und stellte fest: „Die Arbeit mit Präzision hat mir richtig Spaß gemacht.“ Danach ging es in die Hephata-Gärtnerei, wo Bio-Knoblauch geputzt, sortiert und etikettiert wurde. Stefan Gerlach war vor allem von der Atmosphäre begeistert: „Hier arbeiten wirklich tolle Teams zusammen.“
LEBENSHILFE WALDECK-FRANKENBERG: MELKEN AM MORGEN
Rustikal war der „Schichtwechsel“ für Michael Wehling aus der LWV-Personalabteilung. Sein Job-Tausch begann morgens früh um 7 Uhr mit dem Melken der Kühe im Stall des Hofguts Rocklinghausen, das dem Lebenshilfe-Werk Kreis Waldeck-Frankenberg angehört. Anschließend wurden die Kälbchen getränkt und Wehling half, die Kühe auf die Weide zu bringen. Seine LWV-Kollegin Nicole Hartmann-König war in der Hauswirtschaft des Hofguts für die Grüne Soße zum Mittagessen verantwortlich. Dazu gehörte, jede Menge Eier zu kochen und zu schälen, alles gemeinsam mit Klientinnen und Klienten, die im Bereich Hauswirtschaft tätig sind. Auf dem Hofgut sind ca. 50 Personen beschäftigt, die alle mittags versorgt werden müssen.



Michael Wehlings Tausch-Partnerin Pauline Naumann, die sonst auf dem Hofgut im Melkstand arbeitet, erfuhr stattdessen von LWV-Haustechniker Bernd Kolbig, welche Arbeiten bei den vielen Veranstaltungen im historischen Ständehaus in Kassel anfallen: vor allem schwere Tische und Stühle transportieren. Kolbig nahm Pauline Naumann und Julia Pagel – beide Beschäftigte des Hofguts Rocklinghausen – mit auf eine Tour durch das historische Ständehaus, das unter anderem für Verbandsversammlungen, Konzerte und Ausstellungen genutzt wird. Anschaulich erklärte der Experte die baulichen Besonderheiten und die Veranstaltungstechnik. Das Beste daran: Die beiden Frauen durften am Technikpult auf der Empore auch selbst einige Knöpfe bedienen und zum Beispiel die Beleuchtung ein- und ausschalten.
EVIM: AUS DER WERKSTATT AN DEN EMPFANG
Auch in der Regionalverwaltung des LWV in Wiesbaden hieß es an diesem Tag „Schichtwechsel“: Hier bekamen Sara Najar und Luca Bottero – beide in der Werkstatt des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau (EVIM) tätig – die Gelegenheit, verschiedene Arbeitsbereiche kennenzulernen. Vom Archiv ging es für sie zur Poststelle und zum Empfang. Hier gefiel es Sara Najar am besten, während sich Luca Bottero vor allem für die Arbeit am Scanner der Poststelle begeisterte. Sein Fazit: „Ich finde es toll, wie kollegial hier alle miteinander umgehen. Außerdem hätte ich nicht gedacht, dass so viele Menschen mit Beeinträchtigungen beim LWV arbeiten.“
Umgekehrt schnupperten die LWV-Mitarbeiterinnen Maria Schohe und Leandra Hardt in die Reha-Werkstatt von EVIM Teilhabe hinein: erst in die Digitalisierungsabteilung PixelWerk, wo beide beim Scannen mithalfen; dann in die Bereiche HandWerk und BackOffice, in denen die Handmontage von Produkten im Vordergrund steht. Im WaschWerk, wo die Wäsche der Bewohner des EVIM-Verbundes sowie externer Kunden gewaschen und gebügelt wird, packten Schohe und Hardt beim Sortieren der Wäsche mit an. Auch die hauseigene Großküche – das GenussWerk, in dem täglich frisch gekocht wird – lernten die LWV-Mitarbeiterinnen kennen. Am frühen Nachmittag gab es einen Austausch mit den Bereichen KursFabrik, dem SozialDienst sowie der JobFabrik. Am Ende des spannenden „Schichtwechsels“ stand für Maria Schohe, Leandra Hardt und alle beteiligten EVIM-Mitarbeitenden die Erkenntnis, dass alle an einem engen gegenseitigen Austausch sehr interessiert waren und sind.
BWMK: AUSTAUSCH BÜRO GEGEN WASCHBECKEN-BAU
Alina Vetter und Claudia Stelzer, die regulär in der Regionalverwaltung des LWV in Darmstadt arbeiten, lernten beim „Schichtwechsel“ das Dienstleistungszentrum des Behinderten-Werks Main-Kinzig (BWMK) in Langenselbold kennen. Hier bietet das BWMK für Menschen mit Behinderungen Qualifizierung und Teilhabe in der Arbeitswelt in den Bereichen Aktenvernichtung, Industriemontage, Verpackung, Konfektionierung, Elektro-Recycling und Tampondruck. Die LWV-Mitarbeiterinnen bauten im Bereich Industriemontage mobile Waschbecken zusammen, angeleitet von einem Mitarbeiter des Dienstleistungszentrums. „Es war eine tolle Erfahrung, mal den Ablauf im DLZ des BWMK kennenzulernen“, resümierte Claudia Stelzer, „leider ging die Zeit so schnell vorbei.“



Währenddessen erlebten ihre Tauschpartner Cäcilie Kluth und Markus Zittlau, die sonst in den BWMK-Werkstätten arbeiten, wie es im Empfangsbereich der LWV-Regionalverwaltung in Darmstadt zugeht. Viele Aufgaben laufen dort zusammen: Telefonanrufe, Besucher, Schlüsselausgaben, Paketdienste, dazu parallele Mitarbeit bei der Digitalisierung der Tagespost. Weiter ging’s in die LWV-Poststelle, wo ihnen Mitarbeiter Volker Büchner das fachgerechte Falten und Kuvertieren der Ausgangspost von Hand zeigte. „Interessant“ fanden beide die Kuvertiermaschine, die das automatisch erledigt. Auch dem LWV Hessen Integrationsamt statteten die beiden Werkstatträte einen Besuch ab, empfangen von Mitarbeiter Jens Jansohn, der ihnen die Aufgaben und Zuständigkeiten erklärte. Besonders gut gefiel Cäcilie Kluth und Markus Zittlau auch der persönliche Besuch bei der für sie zuständigen Sachbearbeiterin.
„STARKES SIGNAL FÜR GELEBTE INKLUSION“
LWV-Landesdirektorin Susanne Simmler ließ es sich nicht nehmen, selbst im Rahmen des Aktionstages am „Schichtwechsel“ teilzunehmen. Sie packte in der Bürstenmacherei und der Gärtnerei der Hephata-Werkstätten in Schwalmstadt-Treysa mit an. Ihr Fazit: „Für mich ist der Schichtwechsel ein starkes Signal für gelebte Inklusion. Er schafft Verständnis und öffnet Türen, und das auf beiden Seiten. Menschen mit und ohne Behinderung lernen sich neu kennen, bauen Vorurteile ab und entdecken Chancen für gemeinsame Wege.“ Sie freue sich bereits auf den nächsten Schichtwechsel im Jahr 2026.