Am 2. April ist der jährliche Welt-Autismus-Tag. Unter dem Motto „Nicht unsichtbar“ wird auf die Bedürfnisse und Lebenslagen von Autistinnen und Autisten aufmerksam gemacht. Vielen Betroffenen in Hessen finanziert der LWV Unterstützungsleistungen. Wir stellen zwei Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) vor. Beide leben in einer besonderen Wohnform der Nieder-Ramstädter Diakonie (NRD) in Mühltal bei Darmstadt.
Sabine Frossard liebt Bücher. „Aber nur Bücher mit einem Happy End!“, sagt sie. „Weil ich mich so stark in Geschichten hineinversetze, deprimieren mich Geschichten mit einem traurigen Ende.“ In ihrer Freizeit befasst sie sich fast ausschließlich mit Lesen. „Seit ich ein Handy mit Internetzugang habe, kann ich auch unterwegs lesen. Oder ich höre Musik über Kopfhörer. Gerade wenn es mir zu laut wird oder zu viele Menschen um mich herum sind, kann ich mich so gut abschotten.“ Seit 2020 lebt die 35-Jährige mit bis zu drei anderen Frauen in der betreuten „Asperger-Autistinnen-WG“ der NRD.


Auch Daniel Vollmar hat in Mühltal ein Zuhause gefunden. „Meine Heimatstadt ist aber Schifferstadt“, sagt er bestimmt in Mannheimer Dialekt. Seit 1997 lebt der 49-Jährige im Haus Bodelschwinghweg 4, einer Wohngemeinschaft für Erwachsene. „Hier im Haus wohnen sechs Menschen mit einer ASS. Das bedeutet, es liegt zudem eine sogenannte geistige Behinderung vor“, erklärt Ute Peemöller, Teamleitung der „Ambulanten Teilhabe Autisten“. Um die WG-Häuser herum gibt es kleine, eingezäunte Gärten. Hinter den Häusern eine Terrasse mit Tischen und Stühlen. „Garten und Terrasse erweitern den Wohnraum. Für unsere Bewohner, für die Ruhe, Reizarmut und Rückzugsräume sehr wichtig sind, ist das eine gute Sache“, beschreibt Peemöller.
FESTE STRUKTUREN ÜBERAUS WICHTIG
„Daniel ist hier voll versorgt“, sagt die Teamleiterin. „Der Tag startet mit einem gemeinsamen Frühstück in der WG.“ Feste Strukturen und Rituale sind überaus wichtig. Auch die Tagesstruktur. „Daniel geht nicht mehr in die Werkstatt, weil er schnell überfordert ist und es zu Übergriffen kam“, berichtet Ute Peemöller. Stattdessen hilft er in seiner Wohngruppe.


Von seiner Woche zu erzählen fällt Daniel Vollmar nicht leicht. Peemöller unterstützt ihn dabei. „Daniel macht jeden Tag die sogenannte Postrunde, er bringt und holt die Post für die WG“, beschreibt sie. „Das macht mir am meisten Spaß“, sagt der 49-Jährige und ergänzt: „Montags kehre ich, mittwochs lege ich unsere Handtücher zusammen, donnerstags mache ich einen Ausflug und freitags gehe ich einkaufen.“ Während Vollmar spricht, greift er immer wieder Ute Peemöllers Hand, tippt auf ihre Finger, als würde er sie zählen. Seine Gedanken schweifen schnell ab. „Aber nicht wehtun“, erinnert sie ihn. „Das hat sonst Konsequenzen.“
VERLÄSSLICHKEIT, VERSTÄNDNIS, EMPATHIE, GELASSENHEIT
Auch das Einkaufen macht ihm Freude. „Mit dem Auto zum Rewe fahren“, lächelt er. Körperliche Tätigkeiten mag er hingegen nicht so gerne. Seine Freizeit verbringt er mit Musikhören oder Fotografieren. „Am liebsten Straßen und Häuser mit Menschen drin. Ich mag Autos und Busse. Spielen mit Autos oder Bilder von Autos in Büchern und im Internet anschauen.“ Um Menschen wie Daniel Vollmar zu begleiten, braucht es absolute Verlässlichkeit, viel Verständnis, Empathie, Gelassenheit und Geduld. Eine Selbstverständlichkeit für das NRD-Team „Ambulante Teilhabe Autisten“.
FAMILIENLEBEN MIT KONFLIKTEN
Sabine Frossard, geboren in München, lebte die ersten Jahre in Deutschland. Nach ein paar Jahren zog die Familie nach Brasilien um, das Heimatland des Vaters. Für Frossard beginnt ein Leben zwischen Deutschland und Brasilien, nach der Trennung der Eltern zudem zwischen Mutter und Vater. Das Verhältnis zu den Eltern ist schwierig. „Ich war kein einfaches Kind. Anfangs habe ich versucht, meine Mutter glücklich zu machen. Ich bemühte mich und lernte viel, die Resultate waren aber nicht gut genug“, beschreibt die 35-Jährige. „Ich habe schon immer viel aus Büchern gelernt. Etwa wie ich mich in der Pubertät verhalten sollte, damit das Familienleben harmonisch ist. Aber auch, wenn ich mich an die Vorgaben hielt, gab es Konflikte. Auch, weil sich die anderen in meinen Augen nicht logisch und konsequent verhalten.“
BEHANDLUNG IN DER KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE
Mit elf Jahren läuft sie das erste Mal von zu Hause weg, mit 15 zieht sie in eine Wohngruppe für Jugendliche. Nach einem Jahr dort bricht sie zusammen. „Nach all dem Stress, den ich in den 15 Jahren aufgebaut hatte, war ich auf einmal in einer Umgebung, in der ich nicht mehr entspannen konnte. Ich kam fast nicht mehr aus dem Bett.“ Um nicht als faul zu gelten, verletzt sie sich selbst. „Ich dachte mir, wenn ich mich verletze, werde ich ernst genommen.“ Sabine Frossard kommt in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Diagnose: Asperger-Autismus und eine Depression. Weil sie aber noch minderjährig ist, wird ihr die Diagnose nicht mitgeteilt.


Sabine Frossard zieht in eine neue, geschütztere Wohngruppe. Ihre Symptome werden mit Medikamenten behandelt und sie schafft ihren Realschulabschluss. Gerne hätte sie eine Ausbildung zur Bibliothekarin gemacht. „Außerhalb meines Zuhauses fühle ich mich in der Bibliothek am zufriedensten.“ Ihre Mutter bestand auf eine kaufmännische Ausbildung. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist weiterhin problematisch. Und obwohl sich die junge Frau in Deutschland heimischer fühlt, versucht sie es erneut in Brasilien beim Vater. Doch auch dort findet sie keine passende Aufgabe, kein richtiges Zuhause.
DIAGNOSE BRINGT GROSSE ERLEICHTERUNG
Mit 25 Jahren erfährt sie endlich, dass sie eine Autismus-Spektrum-Störung hat. „Für mich war das eine große Erleichterung. Wenn es sozial anstrengend für mich wird, habe ich jetzt eine Erklärung, warum ich so bin, wie ich bin. Dass es einen Grund hat, warum ich manches einfach nicht kann.“
Von ihren Mitmenschen wünscht sie sich Ehrlichkeit. „Ich kann viele Signale nicht deuten. Die Menschen müssen mir ins Gesicht sagen, wenn sie etwas stört.“
In der WG in Mühltal fühlt sie sich sehr wohl. Das Haus ist hell, Flur, Küche und Esszimmer sind reizarm gestaltet – dezente Farben, wenig Deko. Auch ihre Arbeit im Gartenbau- und Landschaftspflege-Team der NRD gefällt ihr gut. „Als Asperger habe ich ja eher das Bedürfnis, alleine zu sein. Gleichzeitig sehne ich mich nach menschlichem Kontakt. In der WG und bei meiner Arbeit kann ich beides haben. Und wenn es mal Probleme gibt, bekomme ich hier immer Hilfe“, ist sie sich sicher. Ute Peemöller und Martina Bayer, Bezugsbetreuerin von Sabine Frossard, sind sich einig: „In unserer WG hat Sabine endlich ihr Zuhause gefunden.“
HINTERGRUND ZU AUTISMUS
Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die bereits in der frühen Kindheit beginnt. Sie ist genetisch bedingt. In Deutschland geht man von mindestens 800.000 betroffenen Menschen aus, etwa einem Prozent der Bevölkerung.
Die ASS hat sehr individuelle Erscheinungsformen. Am bekanntesten ist das Asperger-Syndrom. Die Symptome sind meist nicht so offensichtlich, die Sprachentwicklung selten verzögert. Betroffene sind oft durchschnittlich oder hoch intelligent und führen ein relativ selbstständiges Leben. Es gibt aber auch Störungsbilder mit massiven Einschränkungen wie eine starke Lernbehinderung und schwere Defizite in der Sprachentwicklung. Berührungen werden abgelehnt, die Kinder spielen lieber alleine. Der Übergang zwischen den Krankheitsbildern ist fließend, deshalb sprechen Experten lieber von einem „Autismus-Spektrum“.
Das Autismus-Kompetenzteam der NRD gibt sein jahrelanges Wissen gerne weiter. Im Fokus stehen dabei Weiterbildung und Beratung. Interessierte, Betroffene und Angehörige finden mehr dazu auf: https://autismus.nrd.de/autismus/index.php und www.youtube.com/@spektrumautismus.