Moderator Bernd Bark hatte die Gäste offiziell noch nicht begrüßt, da nahm die Festveranstaltung des LWV Hessen zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung bereits Fahrt auf. Nur wenige Takte, nachdem die Band Saitenwind im Kasseler Ständehaus mit ihrem ersten Lied begonnen hatte, klatschen bereits alle, angesteckt vom Rhythmus der Musik und der Begeisterung der elf Musiker, und wippten mit den Füßen. Und so begleitete die inklusive Band der Baunataler Diakonie Kassel alle fröhlich durch knapp zwei Stunden Programm mit vielfältigen Informationen und persönlichen Einblicken in den Alltag von Menschen mit Behinderung.



PERSÖNLICHER BLICK AUF DEN AKTIONSTAG
Was bedeutet der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung für sie persönlich, aber auch für ihre Arbeit? In einem lockeren Thementalk schilderten LWV-Landesdirektorin Susanne Simmler, Heike Hofmann, Hessische Ministerin für Arbeit, Integration, Jugend und Soziales, und Andreas Winkel, Hessischer Beauftragter für Menschen mit Behinderungen, ihre persönliche Sicht auf diese Frage. Dabei saßen die beiden Frauen entspannt mit dem Moderator auf der Treppe zur Bühne, denn, so formulierte Susanne Simmler es: „Eine Treppe muss nicht immer ein Hindernis, sondern kann manchmal auch eine gute Sitzgelegenheit sein.“
INKLUSION EINE „GESAMTGESELLSCHAFTLICHE AUFGABE“
Bei dem informativen Interview machte die Landesdirektorin auch deutlich, dass Inklusion nicht nur eine zentrale Aufgabe des LWV ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche. „Wir müssen uns alle“, so mahnte sie, „immer wieder aufs Neue fragen: Was können wir beitragen?“ Auch Heike Hofmann wünschte sich mehr Sichtbarkeit: „Für mich bedeutet dieser Tag, dass wir den Blick bewusst auf Barrieren richten, die viele Menschen in ihrem Alltag noch erleben – seien es Stufen, starre Strukturen oder stereotype Denkweisen.“ Man müsse jeden Tag für eine noch inklusivere Gesellschaft werben. Denn eine vielfältigere Gesellschaft sei eine bessere Gesellschaft. Andreas Winkel kennt die Alltagsbarrieren als Rollstuhlfahrer genau und appellierte: „Wenn Dinge geplant und umgesetzt werden – zum Beispiel öffentliche Gebäude –, sollten Betroffene gehört und einbezogen werden.“



Und so war es auch bei den musikalischen Einsätzen der Band, die seit 1988 aktiv ist: Sie holte – wie beim Lied „Du bist Du“ – nicht nur alle von ihren Sitzen, sondern einzelne Mitglieder stellten sich gegenseitig vor, berichteten von Konzerten und gaben Einblicke in Ihr Leben außerhalb des Musikmachens. So berichtete Jutta, die bereits seit vielen Jahren in der Gruppe aktiv ist, von Auftritten in München und in der Türkei, aber auch vom Leben in ihrer eigenen Wohnung: vom Alltag mit Arbeit und Putzen, aber auch von ihren Lieblingsbeschäftigungen Backen und Kochen. Manuela ergänzte, dass sie sich wünsche, dass Menschen mit Behinderung noch mehr akzeptiert werden. Besser kann man das Anliegen der Veranstaltung nicht zusammenfassen.
LEBEN MIT BEHINDERUNG IN DER DDR
Wie es mit der Akzeptanz von Menschen mit Behinderung in der DDR aussah, davon berichtete der Historiker Sebastian Barsch, Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Köln. 35 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung rückte die Veranstaltung ein Thema in den Fokus, das auch nach Jahrzehnten noch deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient hätte: die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung in der DDR.



Barsch stellte in einem ebenso informativen wie kurzweiligen Vortrag seine Forschungsergebnisse vor. Sie zeigen: Zwischen dem ideologisch verkündeten Anspruch der sozialistischen Fürsorge und den deutlich begrenzten realen Möglichkeiten lagen Welten. Zwar gab es Ansätze zur Förderung und Teilhabe, tatsächlich fehlte es aber an Infrastruktur und Unterstützungsangeboten – insbesondere für Menschen mit schwersten Behinderungen. Auch Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen seien in dieser Situation meist auf sich allein gestellt gewesen, berichtete Barsch: „Pflege, Betreuung, Förderung: Sie mussten vieles allein stemmen.“ Der Vortrag fand offenbar bei vielen Zuhörern im Saal Beachtung, denn an der anschließenden Fragerunde beteiligten sich Bandmitglieder genauso wie etliche Gäste aus dem Auditorium.
EIN RUNDER ABEND
In Fortsetzung des Vortragsthemas zur DDR setzte dann wieder Saitenwind den Schlusspunkt, als die Musikerinnen und Musiker „Über sieben Brücken musst du gehen“ der DDR-Band Karat anstimmten. Angeleitet vom Perkussionisten Bernhard wurden Arme geschwenkt, der Refrain von vielen mitgesungen. Fast alle stimmten dann beim Schlusslied Champs Elyseé von Joe Dassin ein, das den Übergang in ein geselliges Beisammensein bildete. Bei Fingerfood, zubereitet von der bdks, tauschten sich die Gäste noch eine Weile rege aus, denn Thementalk und Vortrag zeigten, dass Leben mit Behinderung ein Thema mit vielen Facetten ist. Das war vor Ort auch sichtbar, begleiteten doch auch zwei Gebärdendolmetscherinnen souverän die unterschiedlichen Inhalte des Abends. Immer kamen die Gäste auf die Musik zurück. Einhelliges Fazit: Die Band war der „Knaller“ des Abends.



Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung ist ein Aktionstag, der von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurde und jedes Jahr am 3. Dezember stattfindet. Er soll das Bewusstsein für die Belange von Menschen mit Behinderungen stärken.
