Die Jüngsten wuseln durch die Tür, finden ihre Plätze und schon ist von den für sie ausgelegten Turnmatten nichts mehr zu sehen. Hinten an der Wand hocken die Coolen der Berufsfachschule auf Kästen und Böcken. Gerade noch haben sie dem Team vom Hessischen Rundfunk (hr) beim Aufbau geholfen.
Während die Kinder kichern und reden – laut mit Worten oder leise mit Gebärden – trompeten und flöten sich die Musiker und Musikerinnen ein. „Ach, das ist ja nett“, sagt der Hornist. Auf seinem Stuhl findet er wie alle vom Orchester ein Foto, worauf sein Instrument abgebildet ist und die entsprechende Gebärde dazu.



Neben ihm platziert sich schon mal der Kontrabassist mit seinem Instrument. Für ihn ist extra Holz auf dem Boden ausgelegt, damit sich der Stahlstachel des Instruments nicht in den Hallenboden bohrt. Er schlüpft in sein Jackett, rückt den Kragen seines weißen Hemdes zurecht und schiebt sich auf den erhöhten Drehstuhl. Später wird er sein Instrument mit einem klangvollen Brummton vorstellen.
Bis hierhin hat schon mal alles gut geklappt. In der Sporthalle ist es fast mäuschenstill. Alle wurden begrüßt, fehlt noch die Dirigentin. Die kommt, verbeugt sich. Lautes Klatschen und viele sich drehende Hände – die Gebärde für Applaus.
PREMIERE: EIN KLASSIK-LIVE-KONZERT
Eine Premiere, ach was, gleich zwei: Zum allerersten Mal ist das hr-Sinfonieorchester zu Gast in der Johannes-Vatter-Schule in Friedberg, einer LWV-Schule mit dem Förderschwerpunkt Hören. Erstmals erleben die hörgeschädigten Kinder in der Schule ein Live-Konzert klassischer Musik. Und alles ist so festlich, Krawatten und schwarze Anzüge, die Solistin in edler Festrobe. Und das Fernsehen ist auch da, das Mikro so lang wie ein Kinderarm.
Pssst! Gleich geht’s los. Alle sind gespannt. Die Kinder sowieso, ist mal was anderes als Unterricht. Und die Erwachsenen erst recht. Wie werden die Kinder wohl auf die Musik reagieren? Für Andrea Immel nichts Neues. Die Musiklehrerin weiß, dass auch gehörlose Kinder Musik im Körper spüren. „Sie erzählen, dass sie es im Bauch fühlen.“ Die kleinen Härchen auf den Armen stellen sich bei besonders schöner Musik auch bei Menschen auf, die fast nichts hören.
Aber die meisten Schülerinnen und Schüler können mithilfe ihrer Hörgeräte und Cochlea-Implantate hören und sind heute wie sonst im Unterricht mit der drahtlosen akustischen Übertragungsanlage verbunden. Die Moderatorin des Hessischen Rundfunks, Anna-Dorothea Promnitz-Pyrek, trägt ein Gerät um den Hals, ähnlich wie bei den Audioguides im Museum. Die Anlage verstärkt ihre Stimme und überträgt ihre Worte in die Hörgeräte und Implantate der Kinder. Beim Konzert sind noch zusätzlich Lautsprecher in der Turnhalle aufgestellt. Alle die gleiche Frequenz, das ist gecheckt.Â


Die Dirigentin hebt den Stock. Das erste Stück ist gleich ein mitreißendes, das „Lied des Torero“ aus der Oper Carmen. Vorne sind drei, die wippen und bewegen sich zum Takt der Musik, andere staunen mit offenem Mund.
GUT VORBEREITETES PUBLIKUM
Andrea Immel hat die Schüler und Schülerinnen im Unterricht auf den großen Tag vorbereitet: Was macht ein Dirigent, was sind Streichinstrumente und wie baut man die Klarinette wieder zusammen. Am besten spüren Kinder, die nur wenig hören, laute Musik und tiefe Bässe. Wie gut, dass der Kontrabass mitgekommen ist. Und die Tuba. Und … oh… Ein Raunen geht durch die Sporthalle, als ein Musiker sein Instrument hochhält, damit es auch alle sehen können. Das Fagott ist so lang wie ein Zweitklässler. Der Bass unter den Holzblasinstrumenten.
Das Orchester spielt nicht nur klassische Musik, nein, die Moderatorin erklärt zwischen den Stücken auch, um was es zum Beispiel in einer Oper geht. Also Streit, Freundschaft, Liebe. Oder was eine Ouvertüre ist, „klingt wie Kuvertüre“, ist aber doch etwas anderes. „Fertig?“, ruft eine Kinderstimme. Doch noch nicht.Â
Später wird Ksenjia dem Fernsehreporter erzählen, dass sie die Schwingungen gespürt hat. Unheimlich laut sei es gewesen, gebärdet sie. Ksenjia hat während des Konzerts einen besonderen Platz – mitten im Orchester unter den 45 Musikerinnen und Musikern. Wie die anderen Viertklässler, die einen Tag zuvor geholfen haben, die Stühle aufzustellen. Die Zehnjährige hört nur wenig, gebärdet aber zweisprachig; sie ist vor drei Jahren mit ihren Eltern auf der Flucht vor dem Krieg aus der Ukraine in Friedberg angekommen. Die Gebärdendolmetscherin Kathrin Marén Endres übersetzt ihre Antworten, fachlich richtig: Sie voict.



TEILHABE AM KULTURELLEN LEBEN
Seit 17 Jahren ist das hr-Sinfonieorchester in Schulen unterwegs. Aber erst seit vergangenem Jahr tourt das Orchester im Frühjahr eigens zu Grund- und Förderschulen. Das Programm ist auf die junge Zielgruppe ausgerichtet: Die Stücke sind kürzer als in den Konzerten für die weiterführenden Schulen, die Moderation ist kindgerecht. Unter den 72 Bewerbungen wurde in diesem Jahr die Johannes-Vatter-Schule ausgewählt – auf dieser Tour die einzige Schule mit Förderschwerpunkt Hören. Im November 2023 hatte die LWV-Schule am Sommerhoffpark, ebenfalls eine Schule mit dem Förderschwerpunkt Hören, das Vergnügens eines Konzerts mit dem hr-Sinfonieorchester.
„Wir hatten noch nie ein so großes Orchester an unserer Schule“, sagt Schulleiter Bernhard Hohl. Große Freude, als die Schule kurz vor Weihnachten erfuhr, dass sie – an den drei Tagen Konzerttour Ende März – eine von acht ausgewählten Schulen sein würde.
Die Idee der gemeinsamen Initiative von Hessischem Rundfunk und Hessischem Kultusministerium ist es, Brücken zwischen Schule und Konzertsaal zu schlagen und Schüler und Schülerinnen klassische Musik nahezubringen. Für den Schulleiter ist es ein Auftrag: „Wir möchten den Kindern und Jugendlichen die Teilhabe am kulturellen Leben ermöglichen.“
GROßE KOMPONISTEN
Das gelingt auch an diesem Vormittag: Mozart, Grieg, Beethoven Händel, Brahms – die Schülerinnen und Schüler hören eine bunte Mischung aus der Welt der klassischen Musik. Und zwischendrin dürfen sie Fragen stellen. Die Hörenden sprechen mutig ins Mikrofon: Wie alt ist die Dirigentin (33 Jahre) und wie heißt eigentlich die Mehrzahl von Tuba (Tuben) und ob die Moderatorin auch Sport macht (macht sie). Nach dem Solostück der gerade 18 Jahre alt gewordenen Geigerin Josefine Stelter – großer Applaus! – muss ein Junge doch mal fragen: Warum schüttelt sie beim Spielen nur andauernd mit dem Kopf? „Beim Spielen“, so erklärte ihm Josefine, „bewegt man sich viel.“Â
Leider schon Schluss. Noch ein letztes, fetziges Stück: „Mambo“ aus der West Side Story von Bernstein. Da kommt Leben in die größeren Schüler und Schülerinnen, lauter virtuelle Schlagzeuger und Luftgitarristen. Großer Applaus, Blumen, Dank an alle!
2 comments
Super Bericht und tolle Aktivität
Hallo Herr Pohl.
Herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Wir freuen uns natürlich über Feedback und ganz besonders, wenn Ihnen der Beitrag gefallen hat.
Viele Grüße vom LWVblog-Team