Die Autorin Patricia Birkenfeld sitzt auf einem Stuhl und hält ihr Buch lachend in die Kamera. Links von ihr steht ein Pappaufsteller der Hauptfigur Oskar.
Autorin Patricia Birkenfeld präsentiert ihr Buch "Oskars Rettung". Links im Bild, die Hauptfigur Oskar als Pappaufsteller. (Fotos: Rolf K. Wegst)

„Wir spielen mit Dir Hadamar!“

Ernstes Thema kindgerecht umgesetzt - Ausstellung in Hadamar

Kann man Kindern das Thema NS-Verbrechen zumuten? Klar. „Kommt drauf an wie,“ sagt Patricia Birkenfeld. Die Lehrerin ist umringt von 15 Jungen und Mädchen aus der Herzenbergschule in Hadamar. Kurz vor den Schulferien besuchen die Viertklässler die Gedenkstätte Hadamar – Internationaler Ort des Gedenkens (gedenkstaette-hadamar.de) . Sie wissen bereits, dass die Nazis „Leute mit blonden Haaren und blauen Augen züchten“ wollten, wie Noah sagt. Dass sie „keine Behinderten“ mochten oder „Leute mit anderer Hautfarbe“, ergänzt Mila.

„Was seht ihr hier auf dem Plakat?“ Patricia Birkenfeld zeigt auf die Nazi-Propaganda. Darauf ist ein großer blonder Mann zu sehen, gebeugt von der Last auf seinen Schultern: ein Trinker und der andere – Noah zögert, ob er das so sagen kann? – „sieht aus wie ein Affe“. Diese „Erbkranken“ müsse der blonde Deutsche nun durchschleppen. Später wird Amelie in dem Raum unterm Dach, wo die Schulklasse an diesem Tag in Ruhe reden und arbeiten kann, erklären, wie die Menschen belogen wurden. Man habe sie ins Krankenhaus gebracht in dem Glauben, dass sie von ihrer Krankheit geheilt würden. „Aber sie wurden mit Gift umgebracht.“ „Guckt mal,“ Patricia Birkenfeld zeigt auf die Karte, auf der die Gasmordanstalten der Nazis eingezeichnet sind. Hadamar war die sechste und letzte. Hier wurden auch Kinder mit Behinderungen ermordet. Die Viertklässler denken: Das hätte Oskar auch passieren können.

Oskar kennen sie bereits. Sie haben das Buch gemeinsam im Unterricht gelesen. Oskar, der in der Nazizeit groß wird. Nach einem Unfall ist sein rechter Arm gelähmt und er stottert. In der Schule will niemand neben ihm sitzen, seine Mitschüler treten und beschimpfen ihn. „Minderwertig.“ „Krüppel.“ Worte, die Oskars Mama nach innen Tränen weinen lassen. Als eine Horde Jungs Oskar überfällt und ihm droht, dass sie auch „Hadamar“ mit ihm spielen könnten, beschließen die Eltern, ihren Jungen zu verstecken.

Patricia Birkenfeld greift in die hohe Glas-Stele mit Edelsteinen, flache, runde, schiefe und glatte, raue und helle. So verschieden, wie auch Menschen sind, und alle sind gleich wert. Die Stele ist fast bis oben gefüllt mit 15.000 dieser Steine – etwa so viele Menschen brachten die Nazis in Hadamar um. Die meisten wurden im Keller der Anstalt bis 1941 in einer als Duschraum getarnten Gaskammer mit Kohlenmonoxid getötet. Später starben sie an überdosierten Medikamenten und Hunger. Was die Nazis verharmlosend als „Euthanasie“ (Altgriechisch: schöner Tod) bezeichneten, war die systematische Vernichtung von Menschen, deren Leben sie als „unwert“ betrachteten. Die Gedenkstätte in der Trägerschaft des LWV Hessen hilft, an die Verbrechen zu erinnern.

ERST AB DER VIERTEN KLASSE GEEIGNET

Kindgerechte Bücher über den Holocaust gibt es viele. Aber kein Bilderbuch passt zu Hadamar. Keines beschreibt, was hier in der Nazizeit passiert ist. So ist die Idee zu „Oskars Rettung“ entstanden. Das Buch basiert auf dem Jugendroman „Anton oder die Zeit des unwerten Lebens“ von Elisabeth Zöller, die über die Geschichte ihres Onkels schreibt. „Oskars Rettung“ orientiert sich eng an dieser Geschichte und ist doch kindgerecht erzählt, bereichert durch expressionistisch anmutende Bilder, gemalt von Lukas Ruegenberg, Ordensbruder der Benediktinerabtei Maria Laach. Die Texte in „Oskars Rettung“ stammen von Judith Sucher, der pädagogischen Leiterin der Gedenkstätte Hadamar, und Patricia Birkenfeld. Die Lehrerin hatte bereits vor vielen Jahren ihre erste Staatsexamensarbeit im Lehramtsstudium dem Thema gewidmet: Kann man Kindern den Holocaust vermitteln? Kann man. Allerdings empfiehlt sie, das Buch erst ab der vierten Klasse zu lesen und die Kinder nicht damit allein zu lassen.

Von der Nazizeit und dem Holocaust haben viele Kinder schon gehört – von Eltern, über TikTok und Instagram. „Diese Medien lassen die Kinder mit ihren Fragen allerdings allein“, sagt Historikerin und Volontärin Laura Volk. Umso wichtiger sei es, die Fragen der Kinder aufzugreifen und Falsches zu korrigieren. Und immer deutlich zu machen, dass es den Nazis um die Ausgrenzung der Menschen ging, die nicht in ihr Weltbild passten.

Jetzt geht es hoch in den Raum unterm Dach zur Gruppenarbeit mit den sogenannten Memory Boxen. Die Klasse ist wieder unter sich. Drei Kartons mit  Kinderschicksalen, auf dem Deckel der Name, ein Kinderfoto und Geburts- und Sterbejahr. Darin Biografisches, aber auch Gegenstände, die den Kindern in dieser Zeit hätten wichtig sein können. Die Boxen helfen, die Fantasie der Kinder anzuregen.

ÜBERLEBENSGESCHICHTE WAR WICHTIG

In der Box von Hildegard liegt ein Sorgenfresser, mit rotem Band zusammengebundene Briefumschläge mit dem Absender ihres Vaters, ein Kalender mit einem durchgestrichenen Termin. An dem Tag wollte Hildegards Vater seine Tochter in der Anstalt besuchen. Doch zwei Wochen nach ihrer Ankunft in Hadamar war sie tot, angeblich gestorben an einem epileptischen Anfall. Tatsächlich war die Siebenjährige 1943 in Hadamar umgebracht worden. Wie die beiden anderen Kinder in den Memory Boxen. „Deshalb brauchten wir mit Oskar unbedingt eine Überlebensgeschichte“, erklärt Patricia Birkenfeld. Oskar ist immer mit dabei – als Aufsteller (der jeden Abend bei Schließung der Gedenkstätte zum Übernachten ins Büro von Judith Sucher, der Mit-Erfinderin von Oskar, gebracht wird.)

Wenn die Gruppe mal ins Stocken gerät, reicht es, auf Oskar zu zeigen. „Der hatte Glück gehabt, dass er nicht auch umgebracht wurde“, sagt ein Viertklässler. Nur Glück? Nein, es gab Menschen, die ihm geholfen haben. Wie Oskars Tante. „Die war mutig und hat Entschlossenheit gezeigt“, erklärt Amelie. Denn in der Nazizeit gab es auch Menschen, die anderen Menschen halfen.

SONDERAUSSTELLUNG NOCH BIS ZUM 25. AUGUST

Kurz vor Ende des Projekttages steigen die Viertklässler der Herzenbergschule die Stufen hinauf zur Gedenklandschaft draußen. „Und wenn ihr heute mit euren Eltern und Geschwistern zu Abend esst, was erzählt ihr ihnen?“ Ein paar strecken den Finger. „Dass die Nazis keine Menschen mit anderem Glauben mochten.“ „Und behinderte und kranke Leute umgebracht haben.“ „Und wir auch Spaß hatten.“ Hussein: „Und zwei Pausen“. Zum Schluss legt jedes Kind eine Rose an den Fuß der Stele, auf der steht: „Mensch, achte den Menschen!“

Die Sonderausstellung zu dem Bilderbuch „Oskars Rettung“ ist bis 25. August 2024 in der Gedenkstätte Hadamar zu sehen. Interessierte können das Buch zum Preis von 17,95 Euro in der Gedenkstätte kaufen oder im Buchhandel bestellen.

www.gedenkstaette-hadamar.de

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1 Kommentar

  1. Ein ganz wunderbares Projekt, absolut nachahmenswert! Und heute mindestens so wichtig wie in allen früheren Jahren. Denn es geht nicht nur darum, auch der Nachwelt zu vermitteln, was genau damals passiert ist. Sondern es geht auch darum, (im wahrsten Sinne des Wortes) vor Augen zu führen, welche Wirkung hetzerische und populäre Propaganda gegen bestimmte Personenkreise auch heute auf uns haben und wohin uns das führen kann – bis zu einem Punkt, an dem sich die meisten nicht mehr trauen, sich gegen Unrecht zu erheben…

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