„Zwei Stunden habe ich heute Nacht wachgelegen, das war das Lampenfieber!“, ist sich Jens Karsunke sicher. Für ihn ist der Festakt im Ständehaus des Landeswohlfahrtsverbandes (LWV) Hessen in Kassel ganz besonders aufregend. Kommt ja auch nicht so oft vor, dass man als Songwriter mit seinem Chor einen Preis verliehen bekommt, noch dazu mit großem Festakt und Tamtam. Karsunke ist einer von rund 20 Sängerinnen und Sängern des inklusiven Chors All Inklusiv der Regionalen Diakonie Rheingau-Taunus, die an diesem Tag aus Taunusstein und Umgebung nach Kassel gekommen sind und die in einer feierlichen Veranstaltung von LWV-Landesdirektorin Susanne Selbert den Walter-Picard-Preis überreicht bekommen.
Eines der Lieder, die der Chor dann singt, trägt den Titel „Ist ja irre“. Der 57-jährige Karsunke hat es selbst geschrieben, der Song basiert im Wesentlichen auf eigenen Erfahrungen. Er ist psychisch krank und als die offizielle Diagnose vorlag und bekannt wurde, ging es ihm wie so vielen anderen. Der gelernte Metallfacharbeiter verlor seinen Job und bald darauf kam auch die Kündigung für seine Wohnung. Dazu dann Behandlungen und Therapien, all das hat er in einem kurzen Gedicht verarbeitet, die Aufzeichnungen verfeinert und ergänzt. Später wurde daraus das Lied, das für All Inklusiv so etwas wie eine Hymne geworden ist und bei keinem Auftritt fehlen darf.
Gemeinsame Freude an der Musik im Vordergrund
Zwischen 20 und 30 Sängerinnen und Sänger zählt All Inklusiv. Einige von ihnen leben mit psychischen Erkrankungen, andere nicht. „Für alle Beteiligten steht die gemeinsame Freude an der Musik im Vordergrund, miteinander eine gute Zeit zu haben und sich nach der Chorprobe besser zu fühlen als zuvor. Locker rangehen und keinen Leistungsdruck aufbauen, das ist ihr Erfolgsrezept. Das ist ein richtungsweisendes Angebot“, lobte LWV-Landesdirektorin Susanne Selbert bei der Preisübergabe. „Selten haben wir im Preiskomitee eine Entscheidung so schnell und so einstimmig getroffen wie in ihrem Fall!“
2014 hatten Heidi Messerschmidt-Weber von der Regionalen Diakonie Rheingau-Taunus und der jetzige Chorleiter Andreas Wollner die Initialzündung zu dem Projekt. Schnell waren sangesbegeisterte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und über die Diakonie eben auch solche Menschen mit psychischer Erkrankung gefunden. Alle 14 Tage trifft sich All Inklusiv zur gemeinsamen Chorprobe. Möglich ist das natürlich auch nur deshalb, weil viel ehrenamtliches Engagement dahintersteckt. Damit die Probentermine auch für diejenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer möglich sind, die kein Auto haben oder denen es schwerfällt, allein nach Taunustein-Bleidenstadt in den Probenraum zu kommen, ist sogar ein spezieller Shuttle-Service innerhalb der Mitgliederschaft organisiert worden.
Die Corona-Pandemie stürzte zwar auch diesen Chor in eine tiefe Krise. Aber immer wieder fand die Gruppe Gelegenheit, zum Singen zusammenzukommen. Mal trafen sich die Sängerinnen und Sänger im Kurpark, um unter Einhaltung der Abstandsregeln im Freien ihrer Leidenschaft nachzugehen, mal bei schlechtem Wetter kurzerhand in einer Tiefgarage. Und trotzdem brauchte es nach der Zeit der Pandemie noch einmal einen ordentlichen Schub Engagement, um das Projekt weiter fortzusetzen. Umso größer war dann jetzt im Ständehaus die Freude über den Preis. „Wir sind total geflasht. Wir fühlen uns wirklich geehrt und gewertschätzt“, drückte Heidi Messerschmidt-Weber im Namen des gesamten Chors ihren Dank aus. „Inklusion entsteht durch gemeinsames Leben!“
Die regelmäßigen Proben und Auftritte sind wichtig, für die erkrankten Sängerinnen und Sänger bringen sie Struktur und Normalität in ihr Leben zurück. So haben sich jetzt einzelne der psychisch kranken Mitglieder getraut, andere Angebote und Hobbys auszuüben oder etwa auch bei einem anderen, „normalen“ Chor mitzusingen. Welche Bedeutung das Projekt für jede Einzelne, jeden Einzelnen hat, was sie davon mitnehmen, das berichteten dann stellvertretend einige der psychisch kranken Sängerinnen und Sänger: „Hier konnte ich mich meinen Ängsten stellen und mein Selbstvertrauen wieder aufbauen.“ „Jede Stimme zählt!“ „Ich spüre Normalität und Wertschätzung.“ „Hier finde ich immer positive Gedanken.“
Chor wie Therapie
Und auch Jens Karsunke, der Autor von „Ist ja irre“, erklärt, wie wichtig der Chor für ihn geworden ist. „Vier Jahre lang hatte ich aufgrund meiner Erkrankung die Lust am Leben verloren. All Inklusiv hat mir wieder zu neuem Lebensmut verholfen.“ Wie eine Art Therapie habe der Chor gewirkt und tue es immer noch. Dazu trägt natürlich auch die besonnene und zugewandte Art von Andres Wollner bei. Der Chorleiter hat für dieses Projekt ein klares Credo: „Es geht nicht um Perfektion. Musik muss lebendig sein, nur dann kann sie die Menschen erreichen.“ In den gesamten zehn Jahren habe es kein einziges böses Wort gegeben und immer würden nach den Proben alle glücklicher nach Haus gehen, als sie zuvor gekommen sind.“
Neben einer Urkunde und einer Skulptur erhalten die Preisträgerinnen und Preisträger auch 5.000 Euro. Geld, für das sie schon eine gute Verwendung haben. Es soll dazu dienen, einen lange gehegten Wunsch des Chors umzusetzen. Damit das Thema Inklusion noch mehr ins Licht der Öffentlichkeit rückt, werden einige Songs in einem professionellen Tonstudio eingespielt, um sie so noch besser präsentieren zu können und einem größeren Kreis von Menschen bekannt zu machen, am besten auch im Rahmen eines eigenen YouTube-Kanals. Das selbst verfasste Lied „Ist ja irre“ wird natürlich mit dabei sein. Und vielleicht ja auch ein neues Stück. Jens Karsunke arbeitet jedenfalls bereits an weiteren Texten. Details will er noch nicht verraten. Aber wenn es nach ihm geht, soll es nicht bei einem „One-Hit-Wonder“ bleiben.
Auch der Hessische Rundfunk hat über die Preisverleihung berichtet und den Chor All Inklusiv portraitiert. Den Fernsehbeitrag finden Sie hier:
Vorbildliche Inklusion: Chor aus Taunusstein mit Preis geehrt – Video: | hessenschau.de | TV-Sendung