Drei Schülerinnen der Freiherr-von-Schütz-Schule bei der Aufführung. Die mittlere trägt eine Sonnenbrille. Die anderen beiden scheinen mit den Händen ein Selfie von ihr zu machen.
"Ein Erlebnis, das sie so schnell nicht wieder vergessen werden." Schülerinnen der Freiherr-von-Schütz-Schule stehen in Bad Camberg auf der Bühne.

Theater ohne Worte – Inklusion auf der Bühne

LWV-Förderschule spielt Stück ohne Sprache von Peter Handke

Vorhang auf für Inklusion auf der Bühne von der Freiherr-von-Schütz-Schule in Bad Camberg. Schüler und Schülerinnen der LWV-Förderschule führen ein Theaterstück auf. Das ist nicht außergewöhnlich. Aber wenn gehörlose, hörgeschädigte und hörende Jugendliche und Erwachsene gemeinsam Theater spielen, ist das schon seltener. Und dann noch ein Stück von Peter Handke. Unsere Mitarbeiterin Michaela Böhm hat eine der Aufführungen verfolgt. Und – war ganz begeistert.

Der kommt cool daher, wie er da so lässig auf den Platz geht. Ein Typ mit einem komplett rosa Anzug. Lautes Schnarren. Aha, das Smartphone klingelt. Er klopft die Anzugjacke ab, da ist es nicht, schlüpft aus der Jacke, knüllt sie zusammen, fühlt noch mal, nein, kein Handy. Jetzt die Weste, abklopfen, ausziehen, zusammenknüllen. Hemd, abklopfen, ausziehen. Die Hose. Er öffnet den Knopf, zieht am Reißverschluss … Kichern von der Tribüne. Er zuckt zusammen, zieht im Laufen die Hose halb nach oben und verschwindet.

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem Platz, vielleicht in einem Café, vielleicht auf einer Bank. Sie machen es sich bequem und beobachten die Leute, die über den Platz gehen, schlendern, rennen, schlurfen oder torkeln. Oder diesen Typ mit dem rosa Anzug. Es entstehen Bilder in Ihrem Kopf und die formen sich zu Geschichten. Was in den Menschen gerade vorgehen mag, wohin sie eilen und was sie beschäftigt.

EIN SCHAUSPIELER – VIELE ROLLEN

Wie dieses Paar. Das sieht man gleich, da war was zwischen den beiden. Und nun läuft er mit schnellen Schritten davon, sie hinterher, ein bisschen flehend. Kleiner ist sie und ihre Schritte sind kürzer. Sie muss rennen. Bis sie plötzlich stoppt und eine wegwerfende Handbewegung in seine Richtung macht –  so viel Geringschätzung kann nur heißen: „Du kannst mich mal!“. Abrupt dreht sie sich um, wischt mit einem Ruck die Tränen von der Wange und geht mit geradem Rücken davon. Gespielt von Abdi und Geehan, Schüler und Schülerin der Theater AG der Freiherr-von-Schütz-Schule. Im Laufe der über anderthalb Stunden werden die beiden 15 bis 20 verschiedene Rollen ausfüllen.

Es ist das Stück „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ von Peter Handke, abgewandelt für die Freiherr-von-Schütz-Schule. Anja Gilles und Christine Seifried, die Leiterinnen der Theater AG, waren zunächst skeptisch. Der österreichische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger hat das Schauspiel aus dem Jahr 1992 nicht geschrieben, um sein Publikum zu unterhalten. Der Sprachgewaltige entzieht dem Publikum die Sprache, um es zu provozieren, zweifelsohne um es zum Denken zu bringen.

Ein Stück ohne ein einziges gesprochenes Wort, ohne Handlung. Perfekt für Schüler und Schülerinnen mit einer Hörschädigung, fand die Regisseurin Sabine Loew. Es spreche alle an, unabhängig von ihrer Sprache. Mit jeder Probe freundete sich das gesamte Team mehr mit dem Stück an. Auch weil es so bildgewaltig sei und so viele tolle schauspielerische Aktionen möglich mache, heißt es im Kollegium.

Und dann – große Anspannung am Ende, die letzte Verbeugung – Erleichterung: Lautes Klatschen und viele sich drehende Hände (Gebärde für Applaus) kamen von allen Seiten des Schulhofes. Dicht an dicht saßen die fast 300 Zuschauern und Zuschauerinnen. In der Mitte der Platz, auf dem sich Minigeschichten abspielten, kleine Dramen und Alltäglichkeiten: Mann im Bademantel zieht Mülltonne hinter sich her. Großes Gelächter. Übrigens: Der Mann im Bademantel ist Jan Roost, der zweite Konrektor der Schule.

Die Freiherr-von-Schütz-Schule in Bad Camberg ist eine von vier Schulen mit Förderschwerpunkt Hören in Trägerschaft des LWV Hessen. Manche Kinder und Jugendliche sind gehörlos, manche sind schwerhörig. Vor zwei Jahren machte die Schule bereits mit dem Film- und Theaterprojekt „Die Stummchen“ unter der Leitung von Anja Gilles und Christine Seifried von sich reden. Doch die jüngste Aufführung übertrifft das erste Projekt noch einmal – von der Zahl der Mitspielenden über die Requisiten bis zu den Kostümen.

VIELE EXTERNE GRUPPEN UNTERSTÜTZEN DAS ENSEMBLE

Zwölf Schülerinnen und Schüler der Klassen sechs bis neun, drei ehemalige Schüler der Schule sowie eine FSJlerin verwandeln sich von Szene und Szene neu. Komplette Kleiderstangen mit Outfits und Schuhen in der Reihenfolge der Szenen sind vorbereitet, an jeder hängt ein Zettel mit den Namen der Schauspieler und Schauspielerinnen. Auf der Bühne sind außerdem aus Bad Camberg eine Tanzgruppe, ein Bläserensemble, Rope Skipper, Kinder aus der Grundschule und (ehemalige) Kollegen und Kolleginnen der Schule. Unterstützung kam von vier Profis aus Frankfurt: Regisseurin Sabine Loew, Kostümbildnerin Cornelia Falkenhan, Choreografin Brigitta Schirdewahn und Schauspielerin Cornelia Niemann.

So richtig legten alle erst mit Einzelproben im Januar los. Mit klassischen Theaterübungen: Geh mal über den Platz. Und du, folge ihr und ahme ihre Art des Gehens nach. Acht Monate später. Da zieht sich eine Frau übers Pflaster, schwer atmend, steht auf, fällt. Zwei Helfer in weißen Tatortanzügen schützen sie mit einer Rettungsdecke. Schluchzend dreht sie sich zu dem leblosen Bündel Mensch, das weggebracht wird.  Oder die Bettlerin. Die Touristengruppe, die Crew. Musik, Licht, Donner, Regen, so überzeugend, dass sich einer aus dem Publikum die Kapuze über den Kopf zieht.

ZUSAMMENHALT UND SELBSTBEWUSSTSEIN WERDEN GEFÖRDERT

Einzelne Szenen stehen für sich, andere fügen sich ineinander oder setzen sich fort. Und hier, da ist er wieder, dieser schlaksige Typ, der wirkt, als gehörten Arme und Beine jemand anderem. Wie er umständlich versucht, die Blätter wieder in seinen Koffer zu verstauen, dabei stört dieser lange Schal und … ah, er zerrt und zieht, der Schal klemmt im Koffer, sodass er stolpert. Das Publikum lacht schon, sobald Petronel wieder den Platz betritt. „Theaterspielen“, sagt er auf der Website, „macht mir einfach Spaß, die Bewegungen, die Leute zum Lachen zu bringen.“ Wie Fynn, 13, der Theater liebt, als Straßenkehrer so überzeugend wie als alter Mann.

Acht Monate, in denen sich manch einer verwandelt hat. „Es geht nicht darum, aus ihnen Schauspieler zu machen“, sagt die Profi-Schauspielerin Cornelia Niemann. Aber man könne beobachten, wie Zusammenhalt, Solidarität und Selbstbewusstsein zunehmen. „Das ist ein Erlebnis, dass sie so schnell nicht vergessen werden.“ Und das geht dem Publikum nicht anders.

(Alle Fotos: Rolf K. Wegst.)

Weitergehende Informationen auch unter: www.stummchen.de

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