Mutter und Tochter sitzen auf einer Parkbank und lachen fröhlich in die Kamera.
Statt vieler Vorschriften jetzt mehr Freiheiten. Mutter Silvia und Tochter Lisa Bernhardt lieben ihr neues Leben (Foto: Rolf K. Wegst).

„Ich habe die Mama sehr lieb!“

LWV unterstützt Menschen mit Behinderung als Eltern

Einmal gab es eine Situation, in der Silvia Bernhardt fast nicht mehr weiterwusste. Ihre Tochter Lisa kauerte unterm Esstisch und weigerte sich, beim Aufräumen zu helfen. Kurz zuvor hatte sie sich heftig mit zwei Freundinnen gestritten. Nina Dudenhöfer, die verantwortliche pädagogische Fachkraft, setzte sich zu ihr auf den Boden und fragte die Elfjährige, was sie jetzt brauchen könnte. Aufs Kissen hauen? Stampfen? Laut schreien? Keine Reaktion. Dann fiel Silvia Bernhardt was ein: „Wie wär’s mit Mama kuscheln?“ Das war die Lösung.

Seit anderthalb Jahren lebt Silvia Bernhardt, 43, mit Lisa im Haus Stolzenmorgen der Lebenshilfe am Stadtrand von Gießen. Die erste eigene Wohnung! Zuvor waren die beiden fast zehn Jahre in einem Mutter-Kind-Heim untergebracht. Wie ein Gefängnis sei das gewesen. „Die haben Vorschriften gemacht, wann ich daheim sein muss, wann wir essen und was wir essen“, erzählt Silvia Bernhardt. Auch Lisa habe sich nicht wohlgefühlt. Hier sei es besser. „Hier blüht sie auf.“

Es ist noch immer keine Selbstverständlichkeit, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten mit ihren Kindern in einer eigenen Wohnung zusammenleben. Beim hessenweit einzigen Projekt Begleitete Elternschaft der Lebenshilfe Gießen ist das möglich. Die Familien erhalten rund um die Uhr professionelle pädagogische Unterstützung. Der Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen wiederum unterstützt die Bewohner und Bewohnerinnen finanziell im Rahmen der Eingliederungshilfe. Für das Projekt hat sich besonders der frühere Erste Beigeordnete des LWV, Dr. Andreas Jürgens, stark gemacht.

Nina Dudenhöfer hat heute Nachtdienst. In den Koffer hat sie wie immer ihr eigenes Kopfkissen gepackt, darauf schläft sie besser. Sie wird sich die Couch in der sogenannten Regiewohnung herrichten – Büro, Spielzimmer, Schlafplatz und offene Tür in einem. Bei Bedarf ist sie auch nachts zur Stelle. Vielleicht kann ein Kind nicht wieder einschlafen, vielleicht hustet es, die Eltern sind überfordert und aufgeregt. „Wir beobachten oft eine große Ängstlichkeit und Überfürsorglichkeit bei den Eltern“, erzählt Nina Dudenhöfer, die nach ihrer Ausbildung als Heilerziehungspflegerin Psychologie studierte.

„LERNEN, STANDHAFT ZU BLEIBEN“

Sie ist eine von zurzeit sieben hauptamtlichen pädagogischen Fachkräften im Team der Begleiteten Elternschaft und außer für die Bernhardts für eine weitere Familie verantwortlich. Sie hält den Kontakt zum Jugendamt und zu den rechtlichen Betreuerinnen und Betreuern der Mütter und Väter. Zurzeit leben vier Familien in der Begleiteten Elternschaft, drei davon sind alleinerziehende Mütter, die Kinder sind mit drei, vier und sechs Jahren alle jünger als Lisa. Eine fünfte Familie zieht demnächst ein.

Die Fachkräfte helfen den Eltern bei Alltagsdingen, Behördenangelegenheiten und dabei, dass ihre Kinder gut aufwachsen und die Familie ihr Leben möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich meistert. Konkret kann das heißen, gemeinsam Antworten zu finden: Warum ist mein Junge gerade so wütend? Warum weint meine Tochter? Und ist es eine gute Idee, ihm einen Schokoriegel zu geben, wenn er die Hose nicht anziehen will? Mit Lisa sei es zurzeit nicht einfach, findet Silvia Bernhardt. Sie seufzt. Lisa wolle mit dem Kopf durch die Wand und Grenzen ausprobieren. „Pubertät eben.“ Manchmal sei sie eine strenge Mutter, manchmal lasse sie ihr auch was durchgehen. „Für mich ist das schwierig, weil ich nicht gelernt habe, standhaft zu bleiben.“

Dafür ist Nina Dudenhöfer da. Sie hilft ihr bei Struktur und Regeln, damit die Mutter das mit ihrer Tochter einüben kann. Vereinbart wurde dafür ein Punktesystem: Erledigt Lisa morgens alles, also Zähneputzen, frühstücken, anziehen, Ranzen packen, Medikamente nehmen, kämmen, dann erhält sie einen Punkt. Für 15 Punkte darf sie eine halbe Stunde fernsehen, für 20 Punkte mit Mama bummeln.

Es gibt noch mehr Regeln: am Wochenende Müll runterbringen, Handyzeiten einhalten, Bescheid sagen. An der Tür hängt ein Zettel „Bin in der BE. Lisa“. Damit die Mama weiß, dass sie Lisa über den Flur direkt gegenüber in der Begleiteten Elternschaft findet. Nicht nur die Kinder sollen sich an Regeln halten, auch die Mütter und Väter. „Ich weiß, dass ich mehr aufräumen müsste. Es muss nicht geleckt aussehen, aber ordentlich“, räumt Silvia Bernhardt ein. Die Begleitete Elternschaft ist für Eltern nicht nur eine bessere Alternative als eine stationäre Unterbringung, sondern auch ein Dilemma. Sie haben zwar das Sorgerecht für ihre Kinder und sind Mieter der Wohnung; Tür zu und sie sind für sich.

RECHT AUF EIGENE FAMILIE

Doch die Fachkräfte mischen sich in ihr Privatleben ein. Sie achten auf gesundes Essen, regelmäßiges Kochen, ausreichenden Schlaf, dass das Kind nicht vor dem Fernseher geparkt wird und bekommt, was es braucht. Der Hintergrund: Familie steht unter besonderem Schutz des Staates. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention haben Menschen mit Behinderungen das Recht, eine Familie zu gründen, selbst über die Zahl ihrer Kinder zu entscheiden und nicht von ihren Kindern getrennt zu leben. Und gleichzeitig ist das Kindeswohl zu achten. Die Mütter und Väter können nur deshalb mit ihren Kindern zusammenleben, weil es diese teilstationäre Einrichtung in der Begleiteten Elternschaft inklusive Rund-um-die-Uhr-Unterstützung gibt. Wer sich nicht an die Regeln hält, muss ausziehen. Das sei auch schon vorgekommen, berichtet Nina Dudenhöfer.

Putzen, einkaufen, kochen – das Lieblingsgericht der Bernhardts ist Schmorkohl – organisiert die kleine Familie selbst. Spaghetti Bolognese kocht Lisa schon allein, die Mama hilft ihr lediglich beim Abgießen des Nudelwassers.  Lisa hüpft durch die Wohnung, zeigt auf die getöpferten Gefäße, das 1000-Teile-Puzzle an der Wand, das Kissen, das sie ihrer Mutter geschenkt hat. „Ich habe die Mama sehr lieb.“

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2 Kommentare

  1. Hallo, ich freue mich sehr über diesen BLOG, so bekomme ich einen Einblick in Bereiche des LWV von denen ich nur gehört habe. Mein Verständnis für die unterschiedlichen Bereiche und Aufgaben wird geschärft. Danke für diese Form, uns als Mitarbeitende weiter zusammen zubringen.

    1. Hallo Frau Hartmann-König,

      herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Der LWV verfügt in der Tat über eine große Vielfalt von Bereichen und Themen, die sehr berichtenswert sind. Und auch in unserem „Kerngeschäft“ der Eingliederungshilfe leisten wir viel und unterstützen 65.000 Menschen mit Behinderung. Das sind 65.000 Menschen, Themen und persönliche Geschichten, über die wir alle – wenn diese Protagonistinnen und Protagonisten zustimmen – mehr erfahren sollten. Sowohl die LWV-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, als auch die allgemeine Öffentlichkeit und unsere Träger, die Landkreise und kreisfreien Städte. Wir arbeiten daran.

      Viele Grüße vom LWVblog-Team

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