Essen und Trinken sind in Archiven normalerweise untersagt. Fettige Finger und Kaffeeflecken passen nicht zu dem Anspruch, historisch wertvolle Unterlagen für die Nachwelt sicher aufzubewahren. Umso reizvoller war es, dass der diesjährige Tag der Archive das Thema einmal ganz anders auftischte: nicht als Gaumen-, sondern als Augenschmaus mit Kostproben ausgewählter Archivalien. Das Interesse an einem Besuch des LWV-Archivs war groß, die beiden angebotenen Führungen im Nu ausgebucht. Johannes Christof, der erste beim Landeswohlfahrtsverband (LWV) ausgebildete Archivar und seit letztem Jahr fest angestellt, hatte historische Unterlagen aus dem Magazin geholt, die auf die ein oder andere Weise mit Essen und Trinken oder zumindest Genuss zu tun haben.
Im Foyer des Neubaus im Akazienweg 10 in Kassel erfuhren die 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer pro Besuchergruppe bei der Begrüßung, dass der LWV das fünftgrößte Archiv in Hessen hat: nach den drei Staatsarchiven in Wiesbaden, Darmstadt und Marburg und dem Archiv der Stadt Frankfurt. Nach einem kleinen Rundgang durch die Archiv-Räumlichkeiten im Parterre, wo sich auch der Leseraum und die Dienstbibliothek befinden, führte Johannes Christof die Gruppen ins zweite Untergeschoss. Dort lagern bei konstanten 17 Grad Celsius zentrale Unterlagen der Verbandsgeschichte: knapp vier Regal-Kilometer Archivalien, bestehend aus Akten, Karten, Plänen und Fotografien.
Der älteste erhaltene Speiseplan aus dem Hohen Hospital Haina, den der Archivar im großen Magazinraum präsentierte, stammt aus dem September des Jahres 1620, einer Zeit, als der Dreißigjährige Krieg gerade begonnen hatte. In einer für heutige Besucher schwer entzifferbaren, geschwungenen Schrift verrät der historisch aufschlussreiche Beleg, womit die zu diesem Zeitpunkt 256 armen Männer im Hospital – einer Stiftung Landgraf Philipps von Hessen – ernährt wurden: Honig, „Heferbrei“, „Kas“, Graubrot und Stockfisch, ist in der Archivalie aufgeführt. Auffällig ist, dass es auch zahlende Pfleglinge gab, die sogenannten Pröbner. Sie wurden besser versorgt, bekamen häufiger Fleisch und mehr Gemüse.
Heute konzentriert sich die Tätigkeit des LWV ganz überwiegend auf den sozialen Bereich. Die Vorgängerinstitution, der Bezirkskommunalverband, hatte noch weitergehende Betätigungsfelder. So geht aus einer Akte der „Taubstummenanstalt Homberg“ – heute Hermann-Schafft-Schule Homberg (Efze) – hervor, dass es in Breitenau (Gemeinde Guxhagen) eine verbandseigene Gärtnerei und Baumschule gab. Die Taubstummenanstalt bezog von dort um 1900 ihre Baumsetzlinge für den Schulgarten. Interessant ist dabei eine zeitgenössische Broschüre mit allen Apfelsorten, die zum Anbau im „Regierungs-Bezirk Kassel“ geeignet sind. Sie tragen so klingende Namen wie „Königlicher Kurzstiel“ oder „Schafsnase“.
DUNKLE SEITE MANGELERNÄHRUNG
Eine weitere ausgewählte Archivalie, die Patientenakte von Ernst Putzki, verdeutlichte den Besuchergruppen auch die dunklen Seiten des Themas Ernährung. Putzki fiel dem „Euthanasie“-Programm in der damaligen Landesheilanstalt Hadamar zum Opfer, die die Nationalsozialisten 1940 zur Tötungsanstalt für kranke und behinderte Menschen umgebaut hatten. Zwischen Januar und September 1941 wurden dort über 10.000 Menschen, die nach NS-Ideologie als „lebensunwert“ galten, in der Gaskammer ermordet. Unter anderem aufgrund öffentlicher Kritik beendeten die Nationalsozialisten dieses Vorgehen – um das Morden durch bewusst herbeigeführte Mangelernährung, überdosierte Medikamente und Vernachlässigung fortzusetzen. Das Vorgehen beschreibt Putzki in Briefen an seine Mutter, die von der Heimleitung abgefangen wurden und sich deshalb in seiner Patientenakte erhalten haben: „Wir wurden nicht wegen der Flieger verlegt sondern damit man uns in dieser wenig bevölkerten Gegend unauffällig verhungern lassen kann. […] Die Menschen magern hier zum Skelett ab und sterben wie die Fliegen“, schreibt er am 3. September 1943. Anfang 1945 verstarb auch Ernst Putzki als eines von rund 4.500 Opfern dieser Phase des Mordens durch Krankenhausmitarbeiter in Hadamar.
ZIGARETTENSCHACHTEL ALS ARCHIV-KURIOSUM
Um die Besucherinnen und Besucher nicht mit Beklemmungsgefühlen zu entlassen, lenkte Johannes Christof abschließend den Blick auf ein archiviertes Kuriosum aus der Frühzeit des Landeswohlfahrtsverbandes: In den persönlichen Unterlagen von Hermann Schaub, der von 1953 bis 1961 als erster Landesdirektor an der Spitze des LWV stand, hat sich eine Zigarettenschachtel der Marke Eckstein No. 5 erhalten. Auch auf einem ausgestellten Foto, aufgenommen an seinem 60. Geburtstag im Jahr 1960, war Schaubs Passion für aromatische Tabakprodukte nicht zu übersehen.
Beim Hineinschnuppern ins LWV-Archiv wurde die Neugier der Besucherinnen und Besucher sichtlich geweckt. Wer kann das Archiv benutzen? Wie komme ich an Dokumente und Unterlagen? Kann ich zu einem ganz bestimmten Namen recherchieren? Ist alles schon digital zugänglich? Diese und ähnliche Fragen beantwortete Archivar Christof bei den Führungen. Er verwies auf das digitale Archiv-Informationssystem Arcinsys des Landes Hessen, in dem auch die Bestände des LWV-Archivs umfassend verzeichnet sind.