Historisches Foto aus den 1930er Jahren: Kinder bei der Freiluft-Liegekur
Freiluft-Liegekuren – hier ein Foto aus den 1930er Jahren – waren eine Behandlungsmethode in der Landeskinderheilstätte Mammolshöhe. Jetzt steht aber fest: Es gab in den 1950er Jahren auch menschenverachtende Medikamentenversuche an Kindern. Repro: LWV-Archiv

Medikamentenversuche in Mammolshöhe bestätigt

LWV legt Studie zur Kinderheilstätte in den 1950er Jahren vor

In der Kinderheilstätte Mammolshöhe im Taunus wurden in den 1950er Jahren vom damaligen Direktor Prof. Dr. Werner Catel Medikamententests an Kindern und Jugendlichen vorgenommen. In der Einrichtung, die ab 1953 unter Trägerschaft des Landeswohlfahrtsverbands (LWV) Hessen stand, gab es dabei mindestens vier Todesfälle. Ein vom LWV beauftragtes Forschungsprojekt hat dies nun bestätigt. Unsere Autorin Martina Schüttler-Hansper hat eine der damaligen jungen Patientinnen zu ihren Erinnerungen befragt und fasst die wesentlichen Erkenntnisse der Studie zusammen.

VOM SANATORIUM ZUR FORSCHUNGSSTÄTTE

In den ersten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens von 1927 bis 1947 war die Landeskinderheilanstalt Mammolshöhe ein Sanatorium. Behandelt wurden Kinder und Jugendliche mittels einer Kombination von Freiluftliegekur und spezieller Ernährung. Dies änderte sich 1947 mit dem Eintritt von Prof. Dr. Werner Catel als neuem ärztlichen Direktor. Die Mammolshöhe wurde zu einer Stätte der Tuberkuloseforschung, heißt es in der jetzt vorgelegten Studie.

Während dieser Zeit kam auch Herta Winter als Patientin in die Landeskinderheilstätte. „Mit zehn Jahren brachte man mich das erste Mal in die Heilstätte. Bei einer Untersuchung stellte ein Arzt in Groß-Gerau bei mir eine Kaverne, ein Loch im Lungenflügel, fest und schickte mich im Oktober 1948 auf die Mammolshöhe. Aus den von ihm prophezeiten sechs Wochen wurden 14 Monate. Erst im Dezember 1949 konnte ich nach Hause zu meiner Familie und wieder in die Schule“, erzählt die heute 86-Jährige.

Herta Winter beim Blick in ihre Fotoalben aus den 1950er Jahren.
Herta Winter beim Blick in ihre Fotoalben aus den 1950er Jahren. Foto: Martina Schüttler-Hansper

Sie erinnert sich noch sehr gut an diese Zeit: „Am Anfang war ich wie paralysiert, hatte Angst, konnte nicht schlafen. Ich war ja das erste Mal überhaupt von Zuhause weg. Zudem hatte ich hohes Fieber und musste im Bett bleiben. Am zweiten Tag bekam ich einen richtigen Heulanfall vor Heimweh.“

IMMER WIEDER NEUE BEHANDLUNGSMETHODEN GETESTET

Auf Station wurde Herta Winter von zwei Krankenschwestern und dem Stationsarzt behandelt. „Diesen Arzt habe ich hochgeschätzt, er war sehr einfühlsam. Das vermisste man bei Professor Catel, er war sehr kalt und behandelte auch die 18-Jährigen wie kleine Kinder. Zu einer jungen Frau in meinem Zimmer – die hat mich damals so stark beeindruckt, wie kaum jemand mehr, eine richtige Persönlichkeit – sagte er nach einem heftigen Rückfall nur ,Ach das wird schon wieder‘. Das war sehr schlimm. Zu sehen, wie sie weinte, weil sie ahnte, dass es eben nicht wieder wird.“

„Im September 1951 brach die Krankheit erneut aus und ich kam wieder auf die Mammolshöhe, diesmal bis 1953.“ Um ihre Gesundheit stand es anfangs sehr schlecht. „Ich erinnere mich noch, bei einer Chefvisite schlug Professor Catel vor, eine bestimmte Behandlung durchzuführen. Dabei kam eine Mischung aus Traubenzucker und Paraaminosalicylsäure (PAS) zum Verkleben zum Einsatz. Solche neuen Ideen und Vorschläge kamen immer nur von ihm. Weil es dabei Komplikationen gab, ging es mir danach aber noch sehr lange schlecht.“

Die Ärzte in der Landeskinderheilstätte behandelten Herta Winter auch mit Streptomycin, dem damals noch neuen, ersten Antibiotikum gegen Tuberkulose. Über ein Jahr lang bekam sie das Medikament. Weil sich Streptomycin auf das Gehör und den Gleichgewichtssinn auswirken kann, führte man später vor und nach der Behandlung zur Kontrolle Gleichgewichtstest bei Patienten durch. Bei Herta Winter gab es diese Kontrollen noch nicht. Mit 40 Jahren stellten sich bei ihr Schwierigkeiten beim Gehen ein, insbesondere im Dunkeln. Bis heute leidet sie unter Gesichtsfeldausfällen.

MEDIZINISCHER FORTSCHRITT WICHTIGER ALS DAS LEBEN

Die jetzt vorgelegte Studie wurde vom LWV Hessen beim Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Gießen in Auftrag gegeben und gemeinsam mit dem Hessischen Ministerium für Soziales und Integration (HMSI) finanziert. Sie stellt auch fest, dass Catel zusammen mit dem Labormediziner Dr. Gerhard Domagk mit einer Versuchsreihe zur Erprobung eines neu entwickelten Präparats zur Chemotherapie der Tuberkulose begann. Das dabei verabreichte Medikament TB I 698, das später nur für Erwachsene als Conteben auf den Markt kam, habe bei mindestens vier Kindern zum Tod geführt.

Zudem erfasst das Forschungsprojekt die Faktoren, welche die unethischen, teilweise tödlichen Medikamentenversuche überhaupt erst möglich gemacht haben. „Die Vorgänge rund um die Versuchsreihe – und damit auch der Tod von mindestens vier Kindern – wurden im Zusammenhang mit einer von Verschweigen, Verleugnen, Verharmlosen, Verzerren und Verdrehen der historischen Fakten geprägten Neuerfindung der Biografie Catels umgedeutet“, so ein Fazit der Forscher. Ärzte, Pharma-Unternehmen und die Gesundheitsbürokratie akzeptierten und deckten die Versuche. „Die ethische Bedenkenlosigkeit zahlreicher Verantwortlicher, die diese Studie zutage gefördert hat, ist erschreckend“, zeigt sich Dr. Andreas Jürgens, Erster Beigeordneter des LWV Hessen, erschüttert.

„UNVERSTÄNDLICH, DASS NIEMAND CATEL EINEN RIEGEL VORGESCHOBEN HAT“

Von den teilweise tödlichen Medikamentenversuchen an Kindern in der Heilstätte Mammolshöhe hat Herta Winter erst 2018 aus der Zeitung erfahren. „Als ich den Namen Catel gelesen habe, hat es mich wie elektrisiert. Auch von seiner Rolle bei der Kinder-Euthanasie erfuhr ich erst viel später. Und dass er in den 1960er Jahren immer noch verteidigt hat, dass es doch gut war, die Familien von diesen ‚vollidiotischen Kindern‘ zu befreien.“  Die Aufarbeitung der Medikamententests und jetzt sicher zu wissen, was damals vorfiel, ist der heute 86-Jährigen und ihrer Familie sehr wichtig. „Eigentlich ist das ja viel zu spät. Es hat mich schon sehr erstaunt, dass er, obwohl er solche menschenverachtenden Thesen vertrat, immer noch weiter praktizierte. Dass ihm keiner einen Riegel vorgeschoben hat.“

Auch im Forschungsbericht heißt es dazu: „Der Fall zeigt exemplarisch, wie sich die ausbleibende kritische Auseinandersetzung der Medizin mit der eigenen Rolle im nationalsozialistischen Staat nach 1945 auswirken konnte.“ Die vorgelegte Studie soll im Herbst als Publikation in der Schriftenreihe der Gedenkstätte Hadamar erscheinen.

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