Für Lorin, Noyan, Ensar, Amalia und ihre Familien steht an diesem Oktobernachmittag Pferde streicheln, striegeln und – für die, die mögen – auch reiten auf dem Programm. Freudig und zugleich aufgeregt treffen die Kinder mit ihren Geschwistern und Eltern zur „Pferdegruppe“ an der Sindlinger Glückswiese im Frankfurter Ballungsraum ein. Sandra Breser, Leiterin der Interdisziplinären Frühberatungsstelle Hören und Kommunikation an der Schule am Sommerhoffpark, einer Einrichtung des LWV Hessen, nimmt sie in Empfang und begrüßt sie freundlich. „Herzlich willkommen “, sagt sie und begleitet mit lautsprachbegleitenden Gebärden.


Obwohl die Kinder sich nicht kennen, finden sie gleich zueinander. Hoch und runter klettern sie auf einer Art Holztreppe und bestaunen die Kühe, Gänse, Pferde und anderen Tiere der Glückswiese. Sandra Breser unterstützt sie, reicht ihnen die Hand beim Klettern, gebärdet die Namen der Kinder und stellt sie einander vor.
Die Familien nehmen am Beratungs- und Förderangebot der Frühförderung Hören und Kommunikation teil. Sandra Breser und ihr Team sind im Bereich Hörgeschädigtenpädagogik spezialisiert auf die Beratung der Familien und Kindertagesstätten, in der Gebärdensprache und in der Unterstützten Kommunikation. Bis zum Schuleintritt begleiten sie einerseits hörende Kinder gehörloser Eltern, andererseits hörgeschädigte Kinder hörender Eltern.
WARTELISTE FÜR GRUPPENANGEBOT
Die „Pferdegruppe“ ist ein freiwilliges Angebot für Kinder ab drei Jahren. 20 Kinder plus Eltern und Geschwister können diesen Herbst an dem für die Familien kostenfreien Gruppenangebot teilnehmen. „Wir versuchen, unsere Angebote so niederschwellig wie möglich zu halten. Gruppenangebote mit Pferden sind teuer. Da die Pferdegruppe durch eine Spende der Leberecht-Stiftung Frankfurt finanziert wird, fällt für die Eltern die Hürde weg, das Angebot bezahlen zu müssen“, beschreibt Breser und fügt erfreut hinzu: „Es gab großes Interesse. Wir haben sogar eine Warteliste.“



Mit Pferdetherapeutin Jana spaziert die Gruppe dann zu einer kleinen Koppel in der Nähe. Zwei Stunden haben die Kinder Zeit, die Pferde kennenzulernen, Kontakt aufzunehmen und auf ihnen zu reiten. Die vierjährige Lorin hat keine Scheu. An der Hand ihres Vaters geht sie auf ein Pony zu und streichelt sanft seine Nase. Sie strahlt die Umstehenden an. „Zuerst machen wir die Ponys mit Bürsten hübsch“, erklärt Jana, „danach sattele ich Lucky und Elsa für euch und wir machen einen Spaziergang.“
KOMMUNIKATION IN LAUT- UND GEBÄRDENSPRACHE
Die Kinder schnappen sich Bürsten und striegeln los. Jana unterstützt und erklärt den Kindern, wie sie sich den Tieren am besten nähern und was sie lieber lassen. Etwa, zu nah hinter einem Pferd zu stehen. Für die hörgeschädigten Kinder begleitet Sandra Breser alles mit lautsprachbegleitenden Gebärden. Für die Eltern von Amalia, einem sogenannten CODA-Kind (Children of Deaf Adults – hörende Kinder von gehörlosen Eltern), übersetzt Breser in Gebärdensprache. Auch Amalia kommuniziert so mit Mutter und Vater, mit ihrem hörenden Umfeld spricht sie Lautsprache.


Alle Kinder trauen sich, die Pferde zu streicheln und zu striegeln. Auch die Kleinsten machen begeistert mit. „In erster Linie geht es bei diesem Angebot nicht darum zu reiten, sondern um Erfahrungen mit den Tieren. Die Kinder sollen ein schönes Erlebnis haben, ohne Druck, und dabei Selbstvertrauen entwickeln“, beschreibt Breser. „Es sind immer auch Kinder mit Zusatzbehinderung dabei. Wenn sie sich auf das Pony draufsetzen wollen, ist das super. Und wenn sie reiten wollen, ist das noch großartiger. Diese Selbstbestimmtheit ist mir sehr wichtig.“
Reiten möchten in dieser Gruppe alle Kinder. Amalia und Ensar machen den Anfang. Helm auf den Kopf und rauf aufs Pony. Los geht es mit dem Spazierritt. Amalia auf Elsa und Ensar auf Lucky. Jana führt die Ponys. Die fünfjährige Amalia reitet ohne Unterstützung, den dreijährigen Ensar hält seine Mutter fest. Sicher ist sicher. Ensars älterer Bruder läuft vorweg, alle anderen folgen im Entenmarsch.
TRAINING FÜR MOTORIK UND DAS GLEICHGEWICHTSORGAN
Bald schon stellt sich bei den reitenden Kindern Ruhe ein. Auch für ihre Motorik ist das Reiten ein prima Training: etwa, eine gute Position auf dem Pferderücken zu finden und das Gleichgewicht zu halten. „Gerade bei Kindern mit Hörschädigung ist nicht immer klar, ob die Gleichgewichtsorgane gut sind oder ob es irgendwelche Probleme gibt, weil sie ihren Körper nicht gut ausbalancieren können“, erklärt die Heil- und Sonderpädagogin.


Nach der halben Strecke wird – nicht ganz freiwillig – getauscht. Jetzt sind Lorin und der dreijährige Noyan dran. Die kleine Lorin genießt es, mal mit Sandra Bresers Hilfe, mal mit der Hilfe ihrer Mutter auf Lucky zu reiten. Auch Noyan lässt sich auf Pony Elsa durch die herbstliche Natur führen. Dicht daneben immer seine Mama und sein Papa mit dem Zwillingsbruder. Weil der Dreijährige kurz vor Schluss nicht mehr reiten mag, nimmt ausnahmsweise seine große Schwester den Platz auf Elsa ein. Amalia nutzt die Gelegenheit, neben Elsa zu gehen und dabei ihre Mähne zu streicheln.
Zurück auf der Koppel, ruhen sich Elsa und Lucky aus. Dafür kommt der weiß-schwarz gefleckte Krümel ins Spiel. Mit Wasserfarben bemalen die Kinder das Pony. Pinsel ins Wasser, rein in die Lieblingsfarbe und losgemalt. Was ein Spaß. Und lernen lässt sich dabei auch noch: unterstützt kommunizieren, mit anderen Kindern ins Gespräch kommen, auch mal warten. Einfach das Miteinander.
VERNETZUNG UND AUSTAUSCH FÜR DIE ELTERN
„Wir finden es wichtig, dass die Eltern sich austauschen und vernetzen können. Andere Eltern kennenzulernen und zu merken, man ist nicht allein“, sagt Breser und ergänzt: „In den Gruppen sind auch gehörlose Eltern dabei. Für die hörenden Eltern ist es schön zu sehen, wie gehörlose oder hörgeschädigte Eltern ihr Leben meistern, Kinder haben und einer Arbeit nachgehen – und Auto fahren. Das motiviert und zeigt, welche Perspektiven es gibt. Gerade in solchen Gruppen gelingt das viel besser als in der häuslichen Förderung.“


Ein ereignisreicher Nachmittag mit den Ponys der Glückswiese geht zu Ende. Nur ungern verlassen die Kinder die liebenswerten Tiere. Gleichzeitig sind sie ganz schön geschafft. Die Eltern bedanken sich bei Sandra Breser, auch ihnen hat die „Pferdegruppe“ viel Freude gemacht. „Die Kinder nehmen das Erlebnis hier vor Ort mit nach Hause. Uns ist wichtig, dass sie über das Erlebte erzählen können, anderen Kindern im Kindergarten, die nicht dabei waren“, sagt Breser. „Als Erinnerung bekommen sie von mir eine kleine Collage mit Fotos. Für jedes Kind schreibe ich dazu, was es toll gemacht oder sich getraut hat. Das bekommen sie dann mit der Post. Das macht sie megastolz“, freut sie die Heil- und Sonderpädagogin.
